ALLES AUF NULL- Neue Texte der Kulturschockenden
Autor:
ALLES AUF NULL
Neue Texte der Kulturschockenden
Sönke Baumdick
Lena Heckmann
Jessica Heister
Jonas Heyng
Nida Özuylasi
Amira Racho
Nerouz Racho
Antonia Wengert
Grafiken von Bahareh Orooji
Geest-Verlag, Vechta 2021
ISBN 978-3-86685-878-7
140 S., 11.80 Euro
Das nunmehr zweite Buch einer Gruppe junger Autor*innen, die das Bewusstsein eint, mit dem eigenen Schreiben sich und die sie umgebende Welt zu reflektieren, eigene Position durch den Schreibprozess zu gewinnen. Nach dem ersten Buch, in dem die Auseinandersetzung über Heimat und Identität im Mittelpunkt steht (ISBN 978-3-86685-815-2) erweitert sich mit dem vorliegenden Buch ALLES AUF NULL das sprachliche, formale und inhaltliche Spektrum der Schreibenden erheblich. Ein Lesebuch für Jüngere und Ältere, das sehr unterschiedliche Sichten auf Welt vermittelt, zum Gespräch und auch eigenem Schreiben anregt ...
Und die Autor*innen dieses Buches haben ihre eigene Sprache und Weltsicht in ihren Texten entwickelt. „Ich beobachte die Vögel am Himmel. Wie sie sich formieren und in Scharen davonfliegen. Wegfliegen. Möchte ich wegfliegen? Nein. Ich bin nach all den Jahren endlich angekommen.“ Mit sehr klarer und eindeutiger Sprache und doch immer wiederkehrenden Reflexionszeichen beschreibt Jessica Heiser ihre Weltsicht zwischen der eigenen Vergangenheit und der Zukunft.
Lena Hackmann, die Jüngste der Mitwirkenden, charakterisiert sich in ihrem Schreiben durch einen stark emotionalen Bezug zu Welt: „Liebe. / Freiheit. Weite. / Denn das war alles, wonach ich mich sehnte.“ Und man meint, mit jedem ihrer Texte nähert sie sich – bei allen Zweifeln – der Welt neu an und findet in ein neues Verhältnis. „Liebe ist für mich das Teilen mei-ner Texte“, demonstriert in einem einzigen Satz die Bedeutung des Schreibens, der Wörter, als Austauschprozess mit der Welt, mit anderen Menschen.
Gänzlich anders das Schreiben bei den Autoren des Buches. Für Jonas Heyng ist Schreiben ein Austausch in Momentaufnahmen, so wie sich Menschen in dem Augenblick in einem Austauschprozess mit sich selbst und der Welt befinden. „Wenn sich Menschen einander vorstellen, ist dies immer nur eine Momentaufnahme. Sie präsentieren sich einander in diesem kurzen Augenblick, den wir ‚jetzt‘ nennen, aber nicht mehr. Doch auch was hinter uns liegt, ist mit uns verbunden. Manchmal mit schweren Ket-ten.“ Das Ergebnis sind gelegentlich beinahe skurril anmutende Texte über eigene Gefühlsmomente, die er jedoch mit eigenen und gesellschaftlichen Identi-tätsprozessen in Verbindung bringt.
Klar und eindeutig die Sprache und Form von Sönke Baumdick. „In meinem Dorf steht eine Kirche, / Im Nachbardorf ein Windpark schon. / In vielen Orten Gotteshäuser und ein / Verteilzentrum von Amazon.“ Kein Suchender, sondern jemand, der uns klar und eindeutig seine Position zur Welt zeigt.
Nerouz Rachos Texte zeigen einen schmerzhaften Austauschprozess mit der Welt an. „Oft bin ich so. Immer so. Das Gefühl des Verlassenwerdens plagt mich. Hat sich festgesetzt. / Hoffnung darauf, die Hoff-nung wiederzuerlangen. /Enttäuscht und frustriert.“ Doch sie bleibt nicht in diesem Schmerz stecken. Baut sich eigenes, neues Bewusstsein auf, beginnt sich und die Welt wieder zu lieben. „Das war mein Zu-stand, der hat sich aber verändert, nur ist die Verän-derung noch nicht in meinem Kopf angekommen“, lässt sie uns über ihren momentanen Zustand wissen.
Amira Racho geht in ihrem Schreiben bereits einen Schritt weiter. Bei aller skeptischen gesellschaftlichen Analyse ist in ihren Texten immer wieder die Hoff-nung spürbar. „Ich will tanzen auf den Straßen / Fremde Menschen in den Arm nehmen / Lieben und Freude teilen / Ich sehne mich nach dem Leben / Dem einfachen Leben“. Welch wunderbare Beschreibung über die Lust am elementaren Leben.
Und dann Nida Özuylasi mit einer großen Anzahl an Texten, in denen sie aufzeigt, dass sie auf der Suche nach einer inneren und einer äußeren Schönheit der Welt ist, die sie in den verschiedensten Momenten und Bildern immer wieder entdeckt. „Noch nie hinterließ der Kaffee die Aromen so intensiv auf der Zunge, noch nie wurde dieser zu einem Kunstwerk.“
Bleibt noch Antonia Wengert, deren Texte vielleicht die größte literarische Komplexität aufweisen. Nicht zufällig ist der Titel des Buches einem ihrer Texte entnommen. Im Mittelpunkt ihres Schreibens steht der Verlust, der individuelle und auch gesellschaftli-che Verlust. „Über mir liegt immer noch dieser Schleier, dieser Schleier der Leere, der Schwere und des Schmerzes.“ Doch sie verharrt nicht im Leiden, nimmt vielmehr, bei allem zu spürenden Schmerz, den Abschied, die Trennung, den Verlust zum Ansatz eines Neubeginns. „Alles auf null, alles auf Anfang. / So beginnen Abenteuer …“
Ein wundervolles Buch, das jedem Leser, jeder Leserin die Möglichkeit der Auseinandersetzung mit einer Vielzahl von Weltsichten bietet, zur emotionalen und rationalen Auseinandersetzung mit eigener Identität, zu eigenem Schreiben anregt.