Bürster, Helga: Museum der verlorenen Herzen
Autor:
Helga Bürster
Museum der verlorenen Herzen
Titelbild von Karin Flörsheim.
Vechta-Langförden, Geest-Verlag 2006
ISBN 3-86685-040-9
178 S., 11 Euro
Titelbild von Karin Flörsheim.
Vechta-Langförden, Geest-Verlag 2006
ISBN 3-86685-040-9
178 S., 11 Euro
Viele Besucher kamen bisher nicht hinein. Wer wusste schon, dass hier, in der tiefsten norddeutschen Provinz, eine zu Herzen gehende Ausstellung existierte. Außer einem kleinen Schild am ehemaligen Bahnhofsportal wies nichts auf das Museum hin. Immerhin hatte es sich irgendwie herumgesprochen und so kamen neben den Leuten aus der Umgebung hin und wieder auch liebeskranke Menschen von weit her, die hier Trost suchten. Sie erzählten ihre Geschichte und ließen eine Erinnerung zurück. Das wirkte Wunder. Und wem gar nicht zu helfen war, dem bereitete Daisy einen herzkräftigen Cocktail aus Rotwein mit einem frisch gelegten, gequirlten Ei von Gerda, während Desdemona aus dem reichen Fundus des Museums eine passende Liebesgeschichte auswählte, die sie dem herzwunden Besucher zum Besten gab. Er würde gestärkt und mit der Gewissheit, dass er mit seinem Schmerz nicht allein war, nach Hause gehen.
Nach ihrem Buch 'Geest-mordsmäßig' gelingt es der Autorin erneut, eine Sammlung von kurzen Geschichten, diesmal eingebettet in eine Rahmenhandlung, in der ihr typischen Art zu schreiben, die einen nicht aufhören lässt zu lesen.
Leseprobe:
Museum der verlorenen Herzen
Daisy schreckte aus einem unruhigen Schlaf hoch. Ihr Nacken tat weh, denn sie hatte mit dem Kopf auf der Fahrkartenausgabe gelegen. Vorsichtig richtete sie sich auf und blinzelte durch die Scheibe, die den Fahrkartenschalter vom Warteraum trennte. Helles Mittagslicht flutete durch die hohen Fenster des alten Bahnhofs. Einen Augenblick lang wusste Daisy nicht, welcher Tag und wie spät es war. Ihr Mund fühlte sich pelzig an. Ein aufgeschlagener Heftchenroman rutschte zu Boden: ‚Hörst du mein Herz klopfen’ von Suna Paschinski. ‚Oh ja, und wie ich es klopfen höre’, dachte Daisy. Es hämmerte geradezu. Als ob jemand mit der Faust auf Holz eindrosch. Erschrocken stellte sie fest, dass es nicht ihr Herz war, das die Geräusche machte. Jemand schlug hart gegen die Eingangstür. Gerda flog von ihrem Nest auf und reckte aufgeregt die Flügel. Sie gackerte laut.
‚Warum’, fragte sich Daisy während sie langsam aufstand, ‚warum hatte sie eigentlich hier am Fahrkartenschalter geschlafen, am helllichten Tag?’ Sie sah sich um. Ihr Blick fiel auf das Telefon, das dicht neben ihr stand und jetzt fiel es ihr wieder ein: Sie hatte auf Desdemona gewartet. Ihre Schwester war einkaufen gefahren, gestern Abend. Sie war nicht wieder gekommen. Daisy wurde übel vor Angst und Aufregung. Wieder hämmerte jemand gegen die Tür und dicker Staub rieselte vom Türrahmen herunter. Ob das die Polizei war? Stand jetzt wie im Fernsehen ein Beamter mit ernstem Gesicht draußen? Würde er die Hiobsbotschaft überbringen? Gab es überhaupt eine andere Möglichkeit, als dass etwas Schreckliches geschehen war? Noch nie hatte Desdemona sie so lange allein gelassen. Ihre Schwester wusste zu genau, wie sehr sie sich fürchtete, allein in diesem verlassenen Bahnhof, zwischen all den Vitrinen, in denen die Erinnerungen mehr oder weniger tragischer Liebesgeschichten schlummerten. Mit schlotternden Knien stand Daisy auf. Sie öffnete.
„Desdemona!“ Daisy starrte mit offenem Mund auf ihre vermisste Schwester, die in ziemlich zerknautschtem Zustand auf der Schwelle stand. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, die kurzen dackelbraunen Haare waren zerzaust wie nach einem Seesturm und an der Bluse fehlten zwei Knöpfe.
„Ich kann meinen Haustürschlüssel nicht finden“, sagte sie und lachte fröhlich.
„Wie?“
„Ich muss ihn wohl verloren haben.“
„Deswegen bist du die ganze Nacht und den halben Tag nicht nach Hause gekommen?“, fragte Daisy verwirrt. Gerda schaute mit schief gelegtem Kopf zu Desdemona hoch und hob eine Kralle wie zur Begrüßung.
„Blödsinn! Ich komme gerade vom Bahnhof.“
„Bahnhof? Du bist hier im Bahnhof. Du wohnst hier!“ Daisy sah ihre große Schwester an, als ob diese den Verstand verloren hätte. Desdemona lachte.
„Ich meinte nicht unseren Bahnhof, Daisy. Ich rede vom Bremer Hauptbahnhof. Der Nachtzug aus München hatte Verspätung. Und dann musste ich noch ein Taxi zu meinem Auto nehmen. Gott sei dank stand es noch auf der Autobahn, wo ich es geparkt hatte! Komisch, es sprang sofort an.“
„München? Autobahn? Wovon redest du? Du wolltest in Wildeshausen einkaufen ...“
„Ich bin nicht in die Stadt rein gekommen. Die feiern wieder irgendein Fest und alles ist abgesperrt. Ich hab dann die paar Sachen schnell in München gekauft, weil ich ...“
„Was um Himmels Willen hast du denn immer mit München? Ich verstehe kein Wort!“
„Macht nichts. Ich habe Appetit auf einen schönen starken Kaffee und ein frisches Spiegelei. Hat Gerda schon ein Ei gelegt?“
„Ich weiß nicht.“
Desdemona schob ihre Schwester beiseite, die offensichtlich immer noch kein Wort verstanden hatte und trat ein. Sie schlängelte sich mit ihren vollen Einkaufstüten zwischen den Glasvitrinen mit den Erinnerungen verflossener Lieben hindurch und stellte die Tüten schließlich auf dem zerschlissenen Sofa ab. Dann zog sie ihr Jackett aus, hängte es an die Garderobe und schlüpfte mit einem Seufzer der Erleichterung aus den hohen Pumps. Sie zog sich ungeniert die Nylons von den männlich behaarten Beinen. Die Strümpfe hatten einige Laufmaschen, wie Daisy entsetzt feststellte. Desdemona griff nach den Tüten und trug sie durch eine Tür, auf der mit roter, an einigen Stellen abgeblätterter Sütterlinschrift das Wort „Bahnhofsmission“ stand. Hinter der Tür befand sich eine große abgenutzte Küche. Daisy folgte ihrer Schwester. Im Türrahmen blieb sie stehen und beobachtete sie sprachlos, wie sie fröhlich vor sich hin summend Milch, Brot, Käse, Kaffee, Hühnerfutter und andere Lebensmittel in den Kühlschrank und in die Regale räumte, als wäre sie gerade eine Stunde fort gewesen. Gerda stolzierte gackernd zwischen ihren nackten Füßen umher und bettelte um Futter.
„Wie lief es im Museum?“, fragte Desdemona beiläufig und stellte Kaffeewasser auf.
„Ein Besucher. Und Frau Schlottmann hat einen Teller Sauerkraut gebracht“, antwortete Daisy.
„Hat sie sich wieder den weiten Weg gemacht mit ihrem klapprigen Fahrrad, nur um uns etwas zu essen zu bringen?“
„Ja, das auch. Sie wollte aber ...“
„Sonst noch was?“
„Ich habe mir Sorgen gemacht!“ Daisy stampfte mit ihrem Fuß auf. Sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen stiegen. Die ganze Nacht hatte sie wach gelegen. Eine müde Polizistin hatte Daisy abgewimmelt, als sie um zwei Uhr in der Nacht Desdemona als vermisst melden wollte.
‚Ihre Schwester kommt schon wieder, die hat bestimmt gerade viel Spaß’, hatte die Polizistin am Telefon gesagt, als ob sie das hätte trösten können. Wütend hatte Daisy der Polizistin erklärt, dass Desdemona sie nie wegen eines Mannes allein lassen würde. Schließlich hatten sie sich geschworen, immer füreinander da zu sein, nachdem die Eltern nicht mehr bei ihnen waren. Aber die Polizistin hatte schon aufgelegt. Und nun stand Desdemona zerzaust, aber bestens gelaunt in der Küche, und es sah so aus, als ob die Polizistin Recht gehabt hätte.
„Du warst bei einem Mann!“, platzte Daisy heraus.
„Ja“, sagte Desdemona und stellte Gerda eine Schüssel Hühnerfutter hin. Versonnen schaute sie zu, wie das Huhn hungrig die Körner aufpickte. Desdemonas Augen leuchteten wie Glaskugeln am Weihnachtsbaum.
„Er heißt Igor. Warte, ich hole ihn.“
Daisy schnappte nach Luft. Stand dieser Igor etwa vor der Tür? Hatte Desdemona die Unverfrorenheit besessen, einen lebendigen Mann mit in dieses Museum zu bringen? Sie sah ihrer Schwester nach und wunderte sich, wie Desdemona es trotz ihrer beachtlichen Körperfülle schaffte, quasi an ihr vorbeizuschweben. ‚Es muss Liebe sein’, dachte Daisy und wieder stiegen ihr Tränen in die Augen.
Desdemona kam mit einem kleinen braunen Wackeldackel zurück, der bedächtig in alle Richtungen nickte.
„Das ist Igor?“, fragte Daisy entgeistert.
„Nein!“, lachte Desdemona, „das ist Putin.“
„Du sagtest, er hieße Igor.“
„Igor war sein Herrchen. Er hat die gleichen traurigen Augen, das gleiche Nicken ...“
„Ist Igor auch ein Dackel?“
„Natürlich nicht! Oder glaubst du, ich verliebe mich in einen Hund?“
„Also doch!“
Daisy konnte nicht weitersprechen. Das, wovor sie all die Jahre Angst gehabt hatte, seit sie und Desdemona allein in diesem Bahnhof wohnten, war geschehen. Desdemona hatte ihr Herz verloren. Ganz egal, ob an einen Mann oder an diesen Wackeldackel, es war geschehen.
„Dann wirst du mich jetzt also auch verlassen“, fragte Daisy mit tränenerstickter Stimme, „so wie Mama und Papa? Und all die anderen?“
Desdemona stellte Putin auf den Küchentisch.
„Aber Daisy! Wie kommst du denn darauf, dass ich dich hier allein zurücklasse? Hast du das wirklich gedacht? Hältst du mich für so leichtsinnig?“
Daisy schnappte aufgeregt nach Luft.
„Dann hat es nichts zu bedeuten?“, fragte sie voller Hoffnung. Desdemona stupste Putin an, der freundlich vor sich hin nickte.
„Es bedeutet mir alles. Aber es bedeutet nichts für uns beide. Und wenig für unser Museum. Es ist eine weitere Geschichte, und Putin ist die Erinnerung, die ich mitgebracht habe. Ein neues Ausstellungsstück.“
„Dann ist die Liebe schon verflossen?“, fragte Daisy und schnäuzte sich. Vor Aufregung und zugleich Erleichterung hatte sie rote Flecken im Gesicht bekommen. Putin nickte wie zur Bestätigung.
Daisy setzte sich.
„Erzähl!“, sagte sie. „Wie sah er aus und wie ist es passiert und ...“
Desdemona lächelte und begann zu erzählen.
„Wir lernten uns auf dem Pannenstreifen der A1 zwischen Delmenhorst und Wildeshausen kennen. Es regnete in Strömen und mein Auto kochte.“
„Wie oft habe ich dir gesagt, mit dem Wagen stimmt etwas nicht! Und was wolltest du überhaupt auf der Autobahn!“
„Ich hatte mich verfahren. Er hielt, einfach so, mit seinem 30-Tonner, um mir zu helfen“, fuhr Desdemona ungerührt der Vorwürfe ihrer Schwester fort.
„Ich sehe Igor noch vor mir, wie er aus der Fahrerkabine klettert ... Sein muskulöser Oberkörper nur bedeckt mit einem verschwitzten Doppelripp-Unterhemd.“
„Ich wusste gar nicht, dass du so einen rustikalen Geschmack hast“, seufzte Daisy und kaute aufgeregt auf einer Haarsträhne. Desdemona reichte ihr lächelnd einen Becher Kaffee und setzte sich zu ihrer Schwester. Sie rührte gedankenverloren Zucker und Milch in ihren Kaffee. Zärtlich stupste sie Putins Wackelkopf an.
„Igor ... Er warf nur einen Blick in den Motorraum meines Wagens und ...“
„... nickte traurig.“
„Woher weißt du das?“
„Ach, nur wegen der Ähnlichkeit mit Putin.“
„ADAC oder Igor?“, fragte er und zeigte auf seinen Laster. Ich starrte ihn nur an, konnte meinen Blick nicht von ihm wenden. Wir schwiegen. Jedes Wort hätte den Zauber dieses Augenblicks zerstört.“
Desdemona seufzte tief. Ihr Blick ging in die Ferne, als ob sie an den rissigen Wänden der Küche Igor entdecken könnte.
„Geht es dir gut?“, fragte Daisy nach einer Weile und wedelte mit der Hand vor Desdemonas Gesicht herum.
„Was? Ach so. Ja! ... ‚Igorrr brrringt Schweinehälften fürrr München’, sagte er schließlich. ‚Toll!’, hauchte ich verwirrt und ließ mir von Igor in den Laster helfen. Putin saß auf dem Armaturenbrett. Er nickte weise vor sich hin. Und so ließ ich mein Auto auf dem Pannenstreifen zurück und fuhr mit Igor gen Süden der untergehenden Sonne entgegen.“
„Du bist einfach mitgefahren? Bis München? Mit einem wildfremden Mann – im Unterhemd?“
Desdemona nickte.
„Es war Liebe auf den ersten Blick. So etwas passiert nur einmal im Leben, weißt du? Ich konnte es nicht verhindern. Ich musste einfach mitfahren!“
„Und dann? Wann ist es passiert? An der nächsten Raststätte?“, fragte Daisy und ihre Augen weiteten sich vor Neugier.
„Was meinst du?“
„Wann seid ihr euch näher gekommen?“
„Näher gekommen?“
Desdemona schüttelte verständnislos den Kopf.
„Wir waren uns vom ersten Augenblick an so nah, wie sich zwei Menschen nur nah sein können! Wir fuhren durch die Nacht, vor uns die endlose Autobahn und unsere Seelen waren eins. Ihr Lied donnerte wie eherner Glockenschlag durch das Universum. Die Sterne vibrierten bei ihrem Klang und die himmlischen Chöre stimmten ein in unseren Seelengesang. Selbst Gott muss erbebt sein in den Schwingungen unserer vollkommenen Harmonie.“
Daisy stellte atemlos ihren Kaffeebecher auf den Tisch.
„Du meinst, du hast die Liebe deines Lebens gefunden und ihr habt euch nicht einmal geküsst?“
Desdemona hob die linke Augenbraue und spitzte die Lippen. Daisy hasste es, wenn ihre große Schwester das tat, denn es sah unglaublich herablassend aus. Gleich würde sie ihr klarmachen, dass sie etwas sehr Dummes gefragt hatte. Und richtig: „Weißt du, Kleines, so was verstehst du einfach nicht!“
Desdemona blies Luft durch die Nase und zupfte sich den losen Faden eines abgerissenen Knopfes von der Bluse.
„Das hatten wir nicht nötig, weißt du.“
„Nicht nötig?“
„Nein. Ich meine, wohin führt das, dieser Austausch von Körperflüssigkeiten? Man tut es zuerst über den Mund, dann mit anderen Körperteilen, schließlich mündet alles in eine wüste Turnerei und dann fällt man schwitzend in einen todesähnlichen Schlaf. Vielleicht wacht man vom Schnarchen seines Partners auf und findet ihn dann plötzlich gar nicht mehr so schön, wie er da liegt mit offenem Mund voller Goldplomben. Und schon fängt man an, sich Fragen zu stellen: War es das wert? Will ich jetzt immer einen Schnarcher neben mir im Bett haben? Hat das Kondom dicht gehalten und wenn nicht, hatte ich gerade meine fruchtbaren Tage?“
„Hör auf! Das ist ja widerlich!“
„Eben.“
Die Schwestern schwiegen eine Weile.
„Und wie endeten eure kosmischen Vibrationen?“, fragte Daisy schließlich.
„Igor ließ mich am Münchner Hauptbahnhof raus und schenkte mir Putin zum Abschied.“
„Wie! Das war alles?“
„Es war alles, was man sich nur wünschen kann.“ Liebevoll strich Desdemona über Putins Rücken.
„Wir werden im Geiste ewig verbunden bleiben. Igor und ich. Ich wusste, ich musste ihn ziehen lassen, meinen Igor, meinen einsamen Wolf. Er fährt weiter, mit seinem Dreißigtonner und seinen Schweinehälften, von Stadt zu Stadt und von Land zu Land.“
„Ohne Putin?“, fragte Daisy empört.
„Ich habe Igor versprochen, dass Putin einen Ehrenplatz in unserem Museum bekommt. Schließlich ist er Zeuge einer wahren und wirklich großen Liebe ...“
Daisy stand nach längerem Schweigen auf. Behutsam, um kein Geräusch zu machen, stellte sie ihre Kaffeetasse in die Spüle. Dann drehte sie sich zu Desdemona um, die immer noch versunken war in Putins Anblick. Sie wirkte blass und ihre Augen waren glasig.
„Möchtest du dich vielleicht ein wenig hinlegen und schlafen?“, fragte Daisy besorgt. „Du siehst müde aus. Das kommt vor, wenn man sich verliebt – habe ich gehört.“
Desdemona reagierte nicht.
„Ich könnte dir einen schönen Kamillentee kochen und dann gehst du erst einmal ins Bett ...“
Desdemona schreckte aus ihrem Tagtraum hoch.