Keller, Andreas: Meine Kata-Strophen

Keller, Andreas:
Meine Kata-Strophen.
Prosa, Lyrik, Essay.
Titelbild von Natalia Dueck.
Vechta-Langförden: Geest-Verlag, 2007
ISBN 978-3-86685-057-6
11 Euro

Andreas Keller geb. 1963 in Volosovo Leningrader Gebiet Russischer Föderation. Studierte an der Leningrader Pädagogischen Hochschule und an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg i. Bg., wo er auch im Fach Osteuropäische Geschichte promovierte. Unterrichtete fünf Semester an der Freien Universität Berlin (Osteuropa-Institut) russische Geschichte. 1996 fing an, im Russisch und im Deutsch Gedichte und Prosa zu schreiben, und tritt seit 2000 mit eigenen Liedern auf. Im September 2006 wurde er Mitglied des Literaturkreises der Deutschen aus Russland e. V. und im November 2006 in den Bundesvorstand der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e. V. gewählt. Zur Zeit als Freiberufler tätig und wohnt in Stuttgart.

Андрей Келлер родился в 1963 году в гор. Волосово Ленинградской области Российской Федерации. Закончил педагогический институт им. А. И. Герцена в Ленинграде и Альберт-Людвигс-Университет во Фрайбурге в Брайсгау, где и защитился успешно. Историк по образованию, преподавал пять семестров русскую историю в Свободном университете Берлина. Начал писать в 1996 г., выступать со своими концертами в 2000 г. В настоящий момент свободный художник, проживает в Штуттгарте

In vorliegendem Band vereint Andreas Keller kurze Prosaschriften, Essays und Gedichte
aus seinem bisherigen literarischen Schaffen:

Leseprobe
Ein vertracktes Pionierleben

Bekanntlich kannte die Erotik in der ehemaligen Sowjetunion ein verstohlenes Dasein. Sie durfte sich laut dem Wunsch des geistig kastrierten Politbüros – Methusalem lässt grüßen – nicht im Alltagsleben manifestieren. Es wurde versucht, den erotischen Aspekt im Leben eines jeden sowjetischen Menschen mittels meditativer Praktiken auf Parteiversammlungen und Meetings zu eliminieren. Unter dem ideologischen Mantel des Kommunismus galt die Erotik im Leben eines „moralisch standhaften Erbauers des Kommunismus“ als etwas Verruchtes und Unanständiges, sie wurde aus den Massenmedien und der sozialistischen Realismus-kunst völlig verbannt. Nur in Nischen der akademischen Kunst wie in der Akademie der Künste und den Kunstmuseen durfte sie noch existieren, wurde dort zumindest geduldet: Rembrandt und Rubens wurden sozusagen unter Hausarrest gestellt.
Auch einen durchschnittlichen sowjetischen Schüler sollten die vielfältig anerzogenen sozialistischen Wahr-nehmungsmuster bewusstseinsspezifisch zur Wahr-nehmungsunfähigkeit des Erotischen führen. Und doch war das Erotische, gewollt oder ungewollt, einfach da. Zum Beispiel in Form der Graffitis in der Bahnhofs-toilette. Diese Form der Erotik zog den Jungen jedoch nicht an.
Für ihn blieb also nur die Skulpturengruppe, die er als Pionierinnengruppe in Silberfarbe identifizierte, das Highlight der örtlichen Dorferotik. Die eine saß auf der Bank und beugte sich voll Aufmerksamkeit über das Buch, die andere stand neben ihr und schaute ihre Freundin wohlwollend an. Ihre rechte Hand lag auf der Schulter der Lesenden. Beide befanden sich augen-scheinlich in einem vom Bildungsrausch verursachten tiefen Meditationszustand.
Für den Jungen dagegen waren es verlockende Aphroditen, die sich im Irrgarten der Geschichte verlaufen hatten. Das Objekt der Begierde befand sich in einem nach strengen Prinzipien der Gartenbaukunst angelegten französischen Garten. Dessen feilgebotene geometrische Schönheit lockte jedoch aus uner-findlichen Gründen kaum jemanden, darin zu verweilen. Die Abgeschiedenheit dieses Ortes und vor allem der Pionierinnen boten dem Jungen eine hervorragende Möglichkeit, ungestört all ihre Schönheit, ihre weiblichen Formen zu bewundern: Die von der Bildung in Verzückung geratenen Gesichter waren dem Betrachter abgewandt und zwangen ihn deshalb nichtfortzuschauen. So gab es viel anderes in Ruhe zu bewundern, ihre zarten Nacken, ihre jungfräulichen Brüste, Wölbungen und Vertiefungen ihrer geheimnis-vollen Körper ... und vor allem das geheimnisvolle Dreieck irgendwo da unten.
Was zog den Jungen an diesem, kunsthistorisch be-trachtet, wertlosen Steinhaufen an? Das Verbotene? Das Verborgene? Das Unbefleckte, Reine, Sterile? Diese Nonnen des sozialistischen Realismus, die für alle Ewigkeit im ideologischen Bann standen, mussten sie ihre ewige Jungfräulichkeit bedauern?
Dieses Bedauern musste jedoch irgendwo tief in ihren Herzen versteckt geblieben sein – nach außen drang nur die vorgeschriebene, andachtsvoll stille Fröhlichkeit.
Ein Pendant zu dem Pionierinnen-Denkmal und ihrer Weiblichkeit voll verborgener Erotik bildete das männliche Gorki-Denkmal – eine vollkommen unerotische Erscheinung.

katastrophen.jpg