Klinkebiel, Manfred (Jopapa): Anlässe - Aufsätze und Reden
Autor:
JOPAPA
ANLÄSSE
Aufsätze und Reden
Manfred Klinkebiel
Literarische Schriften Bd.2
Geest-Verlag, Vechta, 2009
„Kunst als Dokument und Kristallisation gelebten Lebens, nicht um ihrer selbst willen, sondern als Lebensform, die Wirklichkeit als zu gestaltendes Potential begreift, das von der Utopie eines besseren Lebens her gespeist wird“ – in diesem Gedanken sind Fäden zusammen gesponnen, die sich in den verschiedenen Beiträgen der vorlie¬genden Sammlung in überraschenden, vielfarbigen Mustern und komplexen Texturen wieder finden.
Ihr Verfasser Manfred Klinkebiel, Musiker, Lehrer, Maler und Philosoph in einer Person, lädt uns mit diesen Texten ein, ihm auf seinen Wegen des Nachdenkens zu folgen. Das sind keine einfachen Wege in beschaulicher Umgebung, sondern Wege durch Bruchlandschaften der Wirklichkeit - so Klinkebiel -, Wege, die verstellt sind von Illusionen der Wahrnehmung und fehlleitenden Beschrei¬bungen, möglicherweise gar von aufgezwungener scheinbarer Alternativlosigkeit. Dem setzt Manfred Klinkebiel die Strategie (das Denkhandwerk) seiner Philosophie des Konkreten entgegen, das schwie¬rige Bemühen, zur ständigen Überprüfung von Wahrnehmungen und damit zu einer Sichtweise von Wirklichkeit vorzudringen, die authentisch, wahr¬haftig, ehrlich ist , und dabei ein Ziel – die Utopie des besseren Lebens – nicht aus den Augen verliert.
Wie das gehen kann, zeigen die Texte. Anlass zum Schreiben ist zumeist ein öffentliches Ereignis – etwa eine Ausstellungseröffnung, die Einführung in ein Konzert, eine Dankesrede zur Entgegennahme eines Preises, die Teilnahme an einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung. Der öffentliche Raum schafft also für Manfred Klinkebiel eine Gelegenheit des öffentlichen Nachdenkens, und zwar auf eine ganz eigene Weise, die mir als abschichtende Reflexion zutreffend charakterisiert zu sein scheint. Das Thema wird von allen Seiten befragt, jeder daraus folgende Gedankenschritt wird kritisch geprüft, Schicht um Schicht durch Reflexion freige¬legt, erneut geprüft und erst dann weitergeführt, schließlich zu einer Abstraktion verdichtet; Wider¬ständigkeit gegen glattes Gedankenspiel und Eigensinn bei der Durchdringung von scheinbar Gegebenem sind die Münze, in der hier getauscht wird. Die Zuhörenden sind eingeladen, am Prozess des Denkens - am Risiko des Philosophierens - unmittelbar teilzuhaben.
In immer neuen, überraschenden Zusammenhän¬gen bewegen sich die Beiträge des hier vorgelegten Bandes vor allem um drei Themen: um die komplexen Beziehungen zwischen Dokument und Utopie und zwischen Wahrnehmung und Wirk¬lichkeit sowie um die Frage nach den Quellen der menschlichen (Über-)Lebensenergie, die für Klinkebiel letztlich im kindlichen Wesen liegen.
Dokument und Utopie – Klinkebiel knüpft hier unmit¬telbar an Joseph Beuys’ Idee von der lebens¬bestimmenden Kraft des Gestaltens in jedem Menschen an. Das schöpferische Produkt – Text, Bild, Komposition – ist Dokument gelebten Lebens und enthält in seiner zeichenhaften Verschlüsselung immer auch Utopisches: Sehnsüchte, Träume, Visionäres, über den kreativen Menschen Hinausweisendes.
Wahrnehmung und Wirklichkeit – den darin enthaltenen zutiefst widersprüchlichen und irritierenden Zusammenhängen und Verwicklungen auf die Spur kommen, den Dingen auf den Grund gehen, sie begreifen durch Verzerrungen und Entstellungen hindurch, der eigenen Erkenntnis¬fähigkeit trauen, dabei „anfangen mit dem Jetzt als der Synthese meines ganzen bisherigen Lebens, aller Erlebnisse, die jetzt zusammenfließen, anfangen mit dem, was jetzt gültig ist, bei aller Prüfung, die das erfordert, anfangen mit dem, was jetzt wirksam ist, sich vielleicht durchsetzen will in eine konkrete Gestalt, wie diese auch immer aussehen wird…“ – dieser Erkenntnisweg radikaler Subjektivität gehört zum Kern des Entwurfs von Klinkebiels Philosophie des Konkreten.
Beide Gedankenstränge werden mit einem dritten Gedanken verbunden: Das in jedem Menschen vorhandene kreative Potential ist im Kind allgegenwärtig und sichtbar. Dies zu dokumentieren und damit die Erwachsenen zur Wiederentdeckung der eigenen kreativen Möglichkeiten anzuregen - für Manfred Klinkebiel liegt darin die zentrale Aufgabe seiner Arbeit als Lehrer und Lernbegleiter.
Kinder als Schöpfer – Auftrag an Erwachsene ist, ihren Gestaltungskräften Raum zu geben und Raum zu lassen, sie ohne Vorbedingungen anzunehmen. Klinkebiel betont dies insbesondere angesichts der Verletzungsoffenheit kindlicher Entwicklungspotentiale, ihrer Gefährdung durch Armut, durch bedrückende Familienbeziehungen, durch das Leistungskonzept des Systems Schule. Die kindliche Verletzlichkeit berührt ihn zutiefst; sie ist ein praktischer Prüfstein seiner Philosophie des Konkreten. Scharfe Gesellschaftskritik und nach¬denkliche autobiografische Reflexionen haben hier ihren Ausgangspunkt. Es geht in den vorgeleg¬ten Texten daher an keiner Stelle um abgehobene Gedankenspiele; es geht immer um das konkrete Nachdenken über Wege zur Selbstermöglichung, um die Entwicklung kreativer Ausdrucksformen in gesellschaftspraktischer Absicht, die ihren Ausgang nehmen von der Utopie eines besseren Lebens.
Heike Fleßner
Im März 2009