Struckmeyer, Ingeborg: Die gläserne Prinzessin

Autor: 

Struckmeyer, Ingeborg
Die gläserne Prinzessin
Mit Illustrationen von Andrea Voigt
ISBN 3-936389-54-3
8,00 Euro

Die gläserne Prinzessin.

Ein Märchen
Mit Illustrationen von Andrea U. Voigt.

Die Bottroper/Münchener Autorin erzählt hier ein Märchen über die wunderschöne Beziehung zwischen Jan und der gläsernen Prinzessin mit einem tragischen Ende.
Die Prinzessin möchte die Erde und die Gefühle Jans kennenlernen. Doch den Schritt in Jans Welt .....

Mit großer sprachlicher Kraft und dennoch schlichten Worten erzählt die Autorin hier ein Märchen, dass auch den Erwachsenen noch ergreifen wird. Die Bilder des Buches stammen von der Essener Künstlerin Andrea U. Voigt.

 

 

Leseprobe:

"Au!", sagte Jan und schlug die Augen auf. Was er da sah, erstaunte ihn sehr. Neben ihm saß ein merkwürdiges Wesen, ein junges Mädchen, ganz aus Glas, mit einem feinen, elfenhaften Gesicht, auf eine eigene Weise wunderschön.
"Warum hast du 'au' gesagt?" Eine helle Stimme erklang, so zart und melodisch wie eine Harfe, und ein paar leuchtend blaue Augen starrten ihn neugierig an. Das Mädchen hielt eine spitze Glasscherbe in der Hand und hatte damit die Haut an Jans Arm aufgeritzt, so dass ein Tropfen Blut herausquoll.
"Ich habe 'au' gesagt, weil du mir weh getan hast", sagte Jan und fügte empört hinzu: "Was soll das überhaupt?"
"Was ist 'wehtun'?", fragte das Mädchen.
"Weißt du nicht, was Schmerzen sind?" Jetzt war Jan an der Reihe sich zu wundern.
"Nein! Was sind Schmerzen?" Die neugierige Fragerei ging weiter. Na, das konnte ja heiter werden!
"Schmerzen hat man, wenn man verletzt ist. Du zum Beispiel hast mich gerade verletzt, in dem du mich geschnitten hast. - Kannst du denn nicht verletzt werden?"
"Ich glaube nicht", sagte das Mädchen nachdenklich, "aber vielleicht ist das so, als wenn mir eine Hand oder ein Fuß zerbricht."
"Aber das ist doch viel schlimmer!" Jan war ganz bestürzt.
"Ach was", lachte das Mädchen, und sein Lachen klang wie zwei Sektgläser, die aneinanderstoßen, "das macht überhaupt nichts. Unser Glasbläser fertigt mir einfach eine neue Hand oder einen neuen Fuß."
Das leuchte Jan ein, und er gab sich damit zufrieden. Ihm brummte ohnehin der Kopf.
"Wo bin ich hier eigentlich, und wer bist du?", fragte er schließlich.
"Das siehst du doch! Hast du etwa noch nie vom gläsernen Königreich gehört?", entrüstete sich das Mädchen, "ich bin Prinzessin Silicia, die Tochter des gläsernen Königs!", sagte es stolz.
Jan, der bis dahin immer noch lang ausgestreckt gelegen hatte, richtete sich auf und sah sich interessiert um. Er befand sich in einer riesigen Höhle, in der fast alles aus Glas war: die Tische, die Stühle, ja selbst das Bett, auf dem er lag. Es war ziemlich hart, und ihm taten ohnehin alle Knochen weh. Jetzt erinnerte er sich auch, was passiert war. Er war nachts mit dem Motorrad unterwegs gewesen und plötzlich von der Straße abgekommen. Ehe er sich versah, war er einen Abhang hinuntergerollt und...

kopfüber in ein dunkles Loch gefallen.
  Da war er ja in eine seltsame Welt geraten. Auf den Tischen funkelten Schalen mit riesigen Amethysten, Topasen und Bergkristallen. Auf dem Boden standen gläserne Bäume mit Blättern aus Smaragden und Blüten aus glitzernden Rubinen und Saphiren. Alles glänzte hell im Schein vieler Kerzen. Dennoch wirkte die schimmernde Pracht kalt und leblos. Einzig das Mädchen vor ihm schien recht lebendig zu sein. Es war wirklich ganz aus Glas, feingliedrig und zerbrechlich hübsch, mit einem weiten, schwingenden Samtkleid, das so blau wie die Farbe seiner Augen war.
"Ich friere", sagte Jan, "und außerdem habe ich Hunger!" Wie zur Bestätigung begann sein Magen laut und vernehmlich zu knurren.
Silicia erschrak, und Jan musste lachen.
"Hab keine Angst, sobald ich etwas zu essen bekomme, hört das Knurren auf."
Die Prinzessin sah ein wenig verlegen zu Boden.
"Ich habe schon gehört, dass ihr Menschen essen müsst. Im Augenblick haben wir allerdings nichts Essbares in unserem Reich. Wir müssen erst einen Diener aussenden, damit er dir etwas besorgt."

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