Amanda Wurm - Seelenklagen
Amanda Wurm
Seelenklagen
Ich fühle sie. Die zerrissenen, ruhelosen Seelen, die immer noch durch die Luft schwirren. Sie ziehen an meiner Kleidung und meinen Gedanken, wollen bemerkt werden. Grau und unbemerkt hinterlassen sie Kratzer, da sie mir etwas erzählen wollen; ihre Ge-schichten. Mit ihren dürren Fingern haken sie sich an mir fest. Ein kalter Schauer schüttelt wenige von mir ab. Die Luft wimmelt von ihnen, die ruhelosen Seelen, um meine Aufmerksamkeit zu bekommen, zerren mich zu bestimmten Schildern mit ihren Geschichten. Sie wollen gehört werden, weil niemand sie mehr sehen kann, damit sie ruhen können, wissen, dass sie nicht vergessen werden, ihre Geschichten weitergetragen werden. Ich gebe mich ihrem Zerren und Zehren hin, völlig ausgeliefert von den Gefühlen, die die zerrissenen Seelen in meinen Kopf pflanzen. Ich bin überwältigt, mit allem, mit den Seelen, möchte mehr von ihnen erfahren, würde sie gerne sehen, sprechen, fühlen. Meine Gedankenfarben wollen sich über den Platz ergießen und alles los-lassen. Ich lasse ein paar Farben los, versuche sie unter die Grauen zu mischen; ruhende Seelen, das will ich. Ich kann mich kurz erholen von der Überflutung und sehe andere, die die aufgewühlten Seelen von sich wegstoßen, sich nur an den weniger wimmelnden Gegenden aufhalten. Ich will alles wissen, den Seelen alles entziehen, sie zusammensetzen, damit sie gehen können. Ich will den Spuk beenden, aber es geht nicht, ich kann es nicht, die Krallen und Haken kommen wieder, nach dem Farbguss; aber ich kann sie nicht wieder befriedigen, ich kann sie nicht alle zusammensetzen. Sie umzingeln mich wie-der. Mehr und heftiger. Schreien ihre ungesprochenen Worte. Dringender und drängender als zuvor; ich weise sie ab, kann nicht mehr, kämpfe gegen sie an. Sie sind stärker, mehr. Und ich tue nur das, was ich noch kann. Ich fliehe.
(Während eines Aufenthalts in der Gedenkstätte Ravensbrück entstanden- Auch das Bidl von Aleyna Köybasi (auf dem Appelplatz) entstand dort).
Text und Bild sind enthalten in dem in Kürze erscheinendem Buch:
Dann Denkt mal, Denkmale!
Mama – Papa, danke, dass ich kein Nazi bin!
Ein projekt der jungen Aur*innen der Schreibwerkstatt des Gymnasiums Antonianum
Hg. von Anna Hackstedt
Geest-Verlag 2024