Anna Breulmann - Aufbruch

Anna Breulmann, 20 Jahre, Halle (Saale)
Aufbruch

Eingerollt liegt es da. Umschlungen von sich selbst, klein, minimiert. Zeit hat es verformt. Erst ist es ge-krochen – wurde schneller und größer, fraß sich voll. Absolute Ahnungslosigkeit, die von Müdigkeit über-trumpft wurde. Es legte sich zur Ruh, abgesondert in einer Nische des Zimmers.
Sonne trifft jeden Tag auf etwas anderes. Es verändert sich. Ein grüner Klumpen, Haut fällt auf Boden, ge-häutet, beschuppt. Das Äußere blickt weiß auf den Betrachter, scheint reglos mit der Wand zu verschmelzen. Nur es selbst merkt das Rumoren. Das Langziehen der Augen, das Deplatzieren der Beine, das Deformieren des Rückens. Trotz des Sichtschutzes fühlt es sich offenbart – in diesem Zustand ausgeliefert, dieser Transformation ausgeliefert. Es wächst – es wachsen neue Körperteile. Zerteilt das Gehirn.
Die Sonne steht mittlerweile im Zenit, erreicht die Zimmerecke nur noch morgens. Das Licht verpasst den Aufbruch der Schutzschicht. Verpasst das erneute Fallen von Haut auf Boden. Die alten Reste weggepustet vom Alltagsdunst. Es wird entblößt. Weiße Hüllen fallen, offenbaren Inneres. Als es völlig nackt ist, stechen die schwarzen Konturen stark vor der Wand hervor. Zerknautschte Glieder, geschlossene Lider – warten. Wagen sich die neuen Teile aufzuspannen, klebrige Reste abzuschütteln?
Es spiegelt sich in der Glasscheibe des Fensters unterhalb des Körpers. Keine Erkennung, Entfremdung des eigenen Selbst – es verharrt. Es weiß, was es nun tun kann, es weiß, wozu der Prozess gedient hat. Und doch – verharrt es. Mit starren Gliedern auf harten Kanten. Wartet. Wartend. Es weiß, dass es nun Grö-ßeres vollbringen kann, dass es diesem Zustand völliger Regungslosigkeit entkommen kann. Und doch – regt es sich nicht. Es blickt sich selbst an. In der Fensterscheibe, wo das Antlitz von daranklatschenden Regentropfen verzerrt wird. Es mag den Anblick nicht. Es schaut weg, lauscht den neu wahrnehmba-ren Tönen. Es will wieder anders sein. Schuppig, kriechend, unsichtbar. Will nicht fliegen, hat Angst vorm Fallen. So hängt es dort. Weiterhin. Auch der Nahrungsinstinkt kommt nicht gegen die Angstlähmung und die Trauer des verlorenen Lebens an.
An einem erneuten Regentag fällt ein toter Körper auf den Boden. Neben abgestorbener Haut liegt es da –ungenutzte Flügel in einem letzten Akt senkrecht aus-gerichtet. Die Raupe, die nie flog.