In Arbeit: Barbara Saladin: Ein geheimnisvoller Koffer

Barbara Saladin:

Ein geheimnisvoller Koffer

Geest-Verlag 2009

 

Leseausschnitt

I.

Die Sache mit dem Koffer nahm genau an jenem Tag ihren Anfang, als
die Schwalben aus Afrika zurückkehrten. Sie sind meine Lieblingsvögel,
deshalb fällt es mir jedes Jahr auf, wenn sie wieder da sind. Zudem war
Gründonnerstag. Und letzter Schultag vor den Frühlingsferien. Die alte
Frau Gerber stand an ihrem Küchenfenster und deutete mit der Hand zum
Himmel. „Schau, Laila, die Schwalben sind zurück!“
Ich blieb stehen und bewunderte den akrobati-schen Flug der kleinen
Vögel. In kunstvollen Bögen schwangen sie sich über die Dächer unserer
Wohnblocksiedlung am Rande des Dorfes.
„Ja, jetzt ist der Frühling wirklich hier. Die Schwalben sind da, und
bald kommt der Osterhase“, lachte ich und rannte die letzten paar
Schritte übermütig nach Hause.
„Hallo! Hast du gesehen, Mama? Die Schwal-ben sind zurück“, rief ich,
als ich in die Woh-nung im dritten Stock platzte. Wie immer knallte ich
die Eingangstür schwungvoll zu.
In der Küche saß zu meiner Verwunderung nicht nur meine Mutter, sondern
auch der Vater. Nanu? Das war ungewohnt. Sonst kam er immer erst eine
Viertelstunde nach uns Kindern nach Hause, setzte sich kurz zum Essen
und ging dann gleich wieder zur Arbeit zurück. Das war immer so
gewesen, jedenfalls seit ich mich daran erinnern kann.
Ich beachtete die Tatsache, dass er zu früh da war, aber nicht weiter,
sondern pfefferte die Schultasche in die hinterste Ecke des Korridors
und seufzte erleichtert. Nun erwartete mich nur noch ein einziger
Nachmittag zur Ferieneinstimmung in der Schule, und danach hatte ich
zwei Wochen lang Ruhe vor französischen Verben, vor Bruchrechnen und
vor den Hauptstädten Europas.

In der Küche herrschte bedrücktes Schweigen. Auch das war
ungewöhnlich: Irgendetwas stimmte nicht. Argwöhnisch betrachtete ich
meine Eltern, ihre müden Blicke, den ungedeckten Tisch. Für einen
Moment konnte man die Stille mit Händen fassen.
„Is’ was?“
Mama machte eine müde Bewegung mit der Hand. „Setz dich zu uns, mein Kind. Wir müssen mit dir reden.“
Dieser Satz beunruhigte mich vollends, obwohl ich in letzter Zeit
wirklich keinen Mist gebaut hatte. Das Verhalten meiner Eltern war
sehr, sehr eigenartig – und plötzlich kam es mir vor, als würden sie
sich vor einem nahenden Gewit-ter ducken. Instinktiv verzichtete ich
darauf, Mama daran zu erinnern, dass ich den Ausdruck ‚mein Kind’ bis
aufs Blut hassen würde. Immerhin bin ich fast zwölf, und somit kein
richtiges Kind mehr.
„Ist etwas passiert?“, fragte ich und blickte meine Eltern an. Geheimniskrämerei hasste ich ebenfalls.
„Sag du es, Koni.“
Papa schwieg. Seine Augen wirkten so traurig, dass ich ihn verunsichert fragte: „Ist Großmama gestorben?“
„Nein, nein. Es geht ihr gut. Wir haben nun ein anderes Problem ...“
„Was?“
„Ich bin heute arbeitslos geworden.“

(erscheint demnächst im Geest-Verlag)

 

Saladin, Barbara

geb. 13. 8. 1976 in Liestal

Besuchte die Handelsmittelschule, ist heute kaufmännische Angestellte, Redakteurin und Autorin.

Schreibt Geschichten mit Spannung, Biss und Tiefgang (Roman, Kurzgeschichte, Reportage und Drehbuch).

Sie ist Mitglied von Pro Litteris, suissimage und der AdS (Autorinnen und Autoren der Schweiz).

Auszeichnungen: 
Gewinnerin des Literaturwettbewerbs "Zeitzeichen aus Gstaad" (2005)
Siegfried-Grundmann-Ehrenpreis des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt e.V. (2006)