In Arbeit: Die Geschichte der jüdischen Gemeinde in Wagenfeld von Timo Friedhoff

In Arbeit:

Wagenfelder Fragmente

Die Geschichte der

jüdischen Gemeinde in Wagenfeld

vom 18. bis zum 20. jahrhundert

von Timo Friedhoff

Geest-Verlag 2008 

 

Vorwort

 

„...
Meine Uroma war als Mädchen nach der Konfirmation bei der jüdischen
Fabrikantenfamilie Heilbrunn im Haushalt in Stel­lung, nach ihr ebenso ihre
Schwester und ihre Schwägerin. Die Familie Heilbrunn konnte 1938 gerade noch
rechtzeitig in die USA auswandern. Ich habe mich als Heranwachsender immer
wieder gefragt, was wohl aus ihnen geworden ist, doch meine Familie wusste über
ihr Schicksal nach der Emigration nichts zu beri­chten.

Davon
habe ich einem Freund erzählt - mitten auf dem Jahr­markt, mitten im Trubel,
als wir zusammen im Karussell saßen. Weiß der Him­mel, wie wir gerade in dem
Moment auf dieses Ge­sprächsthema ka­men. Dieser Freund erzählte mir dann doch
tatsächlich, dass seine Uroma ebenso bei den Heilbrunns beschäftigt gewesen
sei. Der Kontakt zwischen seiner Uroma und der ältesten Tochter dieser Familie
sei nie abgerissen, nach all den Jahrzehnten schrieben sie sich immer noch
Briefe. Besagter Freund hatte diese inzwischen sehr betagte Dame sogar schon in
New York besucht! Dies zu hören, hat mich reichlich verblüfft. Wie eine
Verkettung glücklicher Zufälle erscheint auch, was dann nach und nach noch
alles passiert ist! Ich habe die Adresse der alten Dame in den USA bekommen und
ihr geschrieben. Sie hat mir - ohne mich zu kennen - prompt geantwortet und mir
all ihre Erin­nerungen an meine Familie geschildert. Nach dem ersten Brief
folgten einige weitere - immer verbunden mit Schilderungen des jüdischen Lebens
in Wagenfeld vor 1938. Dann schickte sie mir sogar ein Foto von sich und ihrer
Schwester, damit ich mir einen bildlichen Eindruck verschaffen konnte.

Auf
diese Weise lernte ich Ada Kozier, geb. Adelheid Heil­brunn kennen. Und ich
lernte sie schätzen. Eine Frau, die trotz aller schmerzhaften Erfahrungen und
trotz vieler von den Nazis ermordeter Familienmitglieder immer für die
Versöhnung einge­treten ist und nach dem Krieg als Erste wieder den Kontakt zu
ihrer einstigen Heimat gesucht hat. Eine Frau, die noch mit 92 Lebensjahren
Vorsitzende eines Komitees zur Zusammenführung der Rassen in den USA war.

Von
ihrem Tod, kurz vor ihrem 94. Geburtstag im Juni 2002, habe ich dies aus dem
Internet erfahren. Einer der Nachrufe im Internet endete mit den Worten: „Ada
hatte Hunderte von ihr nahestehenden Freunden in der ganzen Welt und es wird
ihrer gedacht und gedankt werden von allen, die sie als wahre Freun­din kannten:
für ihre Energie, ihr offenes Wesen, ihre Großzü­gigkeit und ihre Passion das
Leiden und die Schmähungen zu lindern, die sich Menschen gegenseitig antun ..."

 

Siebzig
Jahre, beinahe ein Dreivierteljahrhundert schon, ist es nun her, dass das
jüdische Gemeindeleben in Wagenfeld, das seit mehr als 220 Jahren zum
Erscheinungsbild unseres Ortes wie ganz selbstver­ständlich dazu gehört hatte,
ein jähes und bitteres Ende genommen hat.

Im
Dorfe sind nur wenige authentische Zeichen leben ge­blieben, die sich auch
heute noch an die jüdische Gemeinde Wagenfelds erinnern. Das Gebäude, das
einstmals die Synagoge beherbergte, steht nach wie vor an derselben Stelle,
jedoch ist von seinem sakralen Charakter und von der ursprünglichen Bestimmung
des Hauses heute nichts mehr zu erkennen. Die einstigen Wohnhäuser der
jüdischen Familien Wagen­felds beste­hen noch, doch wissen nur noch die alten
Wagenfelder, wer sie ursprünglich bewohnte. Die `Heilbrunn-Straße` im Ortsteil
Haß­lingen mag so manchem geläufig sein, jedoch fehlt es oftmals an Wissen, wer
diese Familie Heilbrunn eigentlich war und welche Leistungen für unse­ren Ort
ihr zugeschrieben werden können. Einzig der jüdische Friedhof kündet auch heute
noch unleugbar davon, dass es auch in Wagenfeld über Jahrhunderte jüdisches
Leben gegeben hat. Doch er liegt abseits des Dorfes im Ortsteil Bockel und ist
längst nicht allen Wagenfeldern bekannt.

Die
bisher erschienene Heimatliteratur enthält nur sehr dürftige oder gar keine
Informationen über das einstige jüdische Leben in Wagenfeld. Beinahe ein
Menschenleben ist schon vergangen, seitdem die Existenz des jüdischen
Gemeindelebens willkürlich zu einem unmenschlichen und für zwölf Wagenfelder
und deren Ehegatten sogar zu einem töd­lichen Ende geführt wurde. Daher ist es
reichlich an der Zeit, sich des Vergangenen zu erinnern und sich des Unrechts,
das auch in unserem Ort unschuldigen Men­schen widerfahren ist, bewusst zu
werden.

So
stellt die hier vorliegende Arbeit einen Versuch dar, das jüdische Leben
Wagenfelds in der Zeit vom frühen 18. Jahr­hundert bis zu seinem Ende im Jahre
1937 so weit wie möglich zu rekonstruieren - Daten zu sammeln, noch greifbares
Wissen zu sichern, Fakten zu erschließen und Zusammenhänge wieder herzustellen
oder überhaupt erst aufzu­zeigen. Für einige Aspekte der jüdischen Geschichte
mag dieses Bestreben auch zufrie­denstellend gelungen sein, in anderen Punkten
hingegen mangelt es jedoch sehr an aussagekräftigen und weiter­führenden Infor­mationen.
Wenngleich auch verschiedene Informationen über die jüdische Gemeinde und deren
Entwicklung während des 18. und 19. Jahrhunderts vorliegen, so erlaubt die
Quellenlage es den­noch nicht, das vorhandene Material zu einem lückenlosen Ge­samtbild
zu­sammenzufügen.

Während
die Gemeindegliederzahlen zu verschiedenen Zeit­punkten zumindest seit dem 19.
Jahrhundert verhältnismäßig gut bekannt sind, mangelt es allerdings teilweise
sehr an in die Tiefe gehenden Fakten über die für den Ort zuständigen Rabbiner
und an aussagekräftigen Ein­zelheiten zum jüdischen Gemeindeleben.

Über
die Erbauung der Wagenfelder Synagoge hingegen, die jüdi­sche Schule des Ortes
und ihre Lehrer ist dank der im Staats­archiv Hannover lagernden Akten recht
viel bekannt. Auch eine Dokumentation der erhaltenen Grabmale auf dem jüdischen
Friedhof ist möglich gewesen. Mit Hilfe zahlreicher Standesämter, Archive und
der einschlä­gigen Literatur konnten weiterhin die Ge­nealogien der jüdischen
Fami­lien weitestgehend erforscht und rekonstruiert werden.

So
manche Daten und Informationen mögen durch Zufalls­funde von Akten noch ergänzt
werden können. In vielen Fällen wird man sich aller­dings damit zufrieden geben
müssen, dass nicht alles an der jüdi­schen Geschichte des Ortes Interessante
und Wissenswerte auch heute noch erforschbar ist. In manchen Aspekten der
jüdischen Historie werden es vielfach wohl nur Fragmente sein, die sich noch zu
einem - allerdings unvoll­ständigen - Bild zusammenfügen lassen.

In
einer Zeit, in der eine erschreckenderweise wachsende Anzahl von Menschen die
schrecklichen und menschen­verach­tenden Gescheh­nisse von zwölf Jahren
nationalsozialistischer Diktatur nur allzu gerne vergessen oder verdrängen
möchte, in der schon jetzt viel zu viele Menschen die alten Geister wieder
auferstehen lassen möchten, in der antisemitische Äußerungen und
Ausschreitungen in Deutschland zuneh­men und selbst in Wagenfeld Schändungen
des jüdischen Friedhofs zu beklagen sind, ist es sehr an der Zeit die jüdische
Geschichte und men­schlichen Schicksale direkt vor der eigenen Haustür zu
beleuch­ten. Nicht nur der bloßen Darstellung geschichtlicher Zusam­menhänge
und Ereignisse soll diese Arbeit dienen - sie soll zum einen auch dem
trügerischen Anschein vorbeugen, solcher Art von Verbrechen gegen die
Menschlichkeit seinen nur in weiter Ferne und keineswegs bei uns zu Hause
vorgekommen. Und zum anderen soll sie die Erinnerung wachrufen und wach halten,
dass es auch in Wagenfeld Opfer von Diskriminierung, Entrechtung, Willkür,
Deportation und gewaltsamen Tod gegeben hat. Sie soll den Opfern des
Holocausts, deren Existenz durch ihre Ermordung gänzlich ausgelöscht werden
sollte, zumindest ihre Namen zurückgeben - als Mahnung, sich des Geschehenen zu
erinnern und sich der Verantwortung bewusst zu sein, dass ein Verbrechen
solcher Motivation und solchen Ausmaßes nie wieder geschieht.

 

 

Gemeindearchiv Wagenfeld im Hause
Auburg

im Juni 2008

Timo Friedhoff