Das Neue Deutschland rezensiert Alexander Reisers 'Robbenjagd in Berlin'

Das Neue Deutschland rezensiert Alexander Reisers 'Robbenjagd in Berlin'

26.11.2009

Geschichten vom Fremdsein

Alexander Reiser über Russlanddeutsche in Berlin

Von Wolfgang Brauer

So sperrig und ungenau der Begriff ist, mit dem sie erfasst werden,
so schwer tut sich die deutsche »Mehrheitsgesellschaft« mit ihnen, den
»russlanddeutschen Spätaussiedlern«. Die Anzahl der Menschen deutscher
Herkunft, die lange nach dem Ende des Krieges, hauptsächlich jedoch
nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, nach Deutschland kamen, beträgt
inzwischen weit über zwei Millionen. Wie hoch der jeweilige
Spätaussiedleranteil vor Ort ist – obwohl von den Behörden versucht
wurde, den Neubundesbürgern möglichst »flächendeckend« die Wohnorte
zuzuweisen, bildeten sich natürlich »Siedlungsschwerpunkte« heraus –,
ist nur schwer herauszubekommen. Als »Deutsche im Sinne des
Grundgesetzes« werden sie nicht separat gezählt. Schätzungen gehen
davon aus, dass ihr Bevölkerungsanteil zum Beispiel in
Marzahn-Hellersdorf mindestens zehn Prozent beträgt. Damit hat dieser
Berliner Stadtbezirk eine weitaus höhere tatsächliche Migrantenquote,
als seine offizielle Statistik ausweist. Für den »Rest« der Bevölkerung
sind die Spätaussiedler ganz selbstverständlich »Russen«. Die
»wirklichen« Russen in Berlin gehen aber zu den ehemaligen
Russlanddeutschen meist auf Distanz.

Einer von ihnen, der Schriftsteller Alexander Reiser, hat im kleinen
Geest-Verlag den Erzählungsband »Robbenjagd in Berlin« vorgelegt.
Reiser, 1962 im Omsker Gebiet geboren, verdiente eine Zeit lang sein
Brot in Sibirien als Pelztierjäger. 1991 kam er nach Berlin. Der Titel
des Buches scheint also nahezuliegen. In 33 kürzeren Erzählungen lässt
der Erzähler den Leser seine beschwerliche Odyssee auf dem Wege ins
»gelobte Land« (Reiser ironisiert den Begriff) miterleben: von der
Antragstellung mit all den tagtäglichen Schikanen durch eine
selbstherrliche Bürokratie in Russland bis hin zu den tagtäglichen
Schikanen durch eine nicht minder selbstherrliche Bürokratie in
Deutschland, der die Fremdenfeindlichkeit, zumindest in Reisers
Geschichten, aus allen Knopflöchern tropft. »Na, wieder mal ausgezogen,
den Staat abzuzocken?«, wird der Erzähler von einer
Sozialamtsmitarbeiterin begrüßt.

Nun ist das ganze Literatur, zumal mit satirischem Anspruch. Satire
muss übertreiben. Ich fürchte, Reiser übertreibt nur wenig. »Bei uns im
Osten ist das Arbeitsamt sowieso davon überzeugt, dass jeder
Langzeitarbeitslose, ... immer noch für die Arbeit in einem
Integrationsprojekt geeignet ist«, schreibt der Autor in der Erzählung
»Der Schuster, der Bäcker und die Integration der Aussiedler« – und
lässt an vielen Integrationsprojekten ob ihrer nachhaltigen
Sinnlosigkeit kein gutes Haar. Dabei könnte doch alles so einfach sein,
meint Onkel Heinrich, rüstiger Rentner und ehemaliger Viehzüchter aus
der kasachischen Steppe. Den muss der Erzähler auf einen
integrationspolitischen Kongress begleiten, weil Onkel Heinrich »den
hohen Herren von der Politik die Augen öffnen möchte«. Er scheitert
natürlich: »Ich hatte gedacht, dass wir uns, wie es sich unter Brüdern
gehört, zusammensetzen und überlegen, wie wir gemeinsam das Problem
lösen: Wie wir unseren Jugendlichen die Sprache beibringen und den
Erwachsenen Arbeit verschaffen.« (»Onkel Heinrich und die Große
Politik«)

Lustig ist das alles nur an der Oberfläche. Aus Reisers Erzählungen
wird deutlich, dass die mit großem politischem Gedröhn seinerzeit
willkommen geheißenen »Spätaussiedler« von der bundesdeutschen
Gesellschaft vielfach als Fremdkörper, ja als unwillkommene Gäste
angesehen werden. Das ist für die Betroffenen doppelt bitter. Waldemar
Hermann (1951 im Ural geboren) schreibt in seinem Essay »Das
Abtauchen«: »Die Deportation der Eltern, weg von ihrem ›Daheim‹, hatte
auch ihn, den später Geborenen, für sein ganzes Leben zum Fremdling
gemacht.«

Reisers erzählerischer Befund ist ernüchternd, für viele Russlanddeutsche ist das Gefühl des Fremdseins
offenbar geblieben. Diese Geschichten, literarisch in durchaus
unterschiedlicher Qualität, seien linken Lesern ans Herz gelegt. Gerade
diese schwanken vielfach im Umgang mit russlanddeutschen Aussiedlern
zwischen zwei Gefühlspolen: Den einen sind diese so etwas wie die
stillen Botschafter (und Bewahrer!) russisch-sowjetischer Kultur, den
anderen einfach ein bestenfalls zur CDU tendierender reaktionärer
Haufen. Beides ist grundfalsch.

Alexander Reiser: Robbenjagd in Berlin. Humorvolle Erzählungen
aus dem Leben eines Russlanddeutschen. Geest-Verlag. 189 S., geb., 10 €.