Die Schwäbische Zeitung schreibt zu 'Dieter Class: Moritz - Mit Flügeln dem Leid entfliehen

Moritz Class" Schicksal öffnet Welten

SPAICHINGEN - Man kann es sich nicht vorstellen, man kann nur
erspüren. Moritz Class hat am 19. August 1987 bei einem Motorradunfall
schwerste Hirnschäden erlitten. 21 Jahre lang haben ihn seine Eltern
Dieter und Lydia Class begleitet, anfangs bis zur Selbstzerstörung für
ihn und um ihn gekämpft. Vor einem Jahr konnte er loslassen, ist
einfach gestorben. Sein Vater hat ein Buch geschrieben.

Dieter
Class (75), der Vater, der Ingenieur, der Rationalist und gleichzeitig
Bergsteiger, Drachenflieger, Welterkunder, Fotograf hat ein ganz
außergewöhnliches Buch geschrieben. Die Geschichte seines Sohnes
berührt vor allem dadurch, dass sie der Vater ohne jedes Pathos
aufschreibt. Es stecken in vielen einfachen Sätzen so viele
Dimensionen, dass der Leser gar nicht anders kann, als tagelang darüber
nachzudenken - und nachzufühlen.

Moritz Class ist 26 als er mit
dem Motorrad verunglückt und sein Kopf gegen einen Felsen knallt. Seit
Gehirn wird verletzt. "Apallisches Syndrom", "hirnorganisches
Psychosyndrom", "Hirnnervenausfälle" diagnostizieren die Ärzte. Oder
anders gesagt: Die einzelnen Hirnfunktionen sind teilweise zerstört und
passen nicht mehr zueinander. Anfangs ist Moritz gelähmt, wird beatmet,
kommuniziert überhaupt nicht. Und doch wieder.

Kein Platz für Moritz

Das Problem: Die Medizin hat zwar die Möglichkeiten, schwer
hirnverletzte Menschen zu retten - aber zu diesem Zeitpunkt keine
Möglichkeiten, mit ihnen umzugehen. Class schildert die Odyssee zu
verschiedenen Einrichtungen. Moritz" Betreuung ist nicht einfach, weil
er - so seine Mutter - seine Impulse nicht kontrollieren kann, seine
Kleider zerreißt, in den Körperfunktionen rundum gepflegt werden muss,
Lähmungen hat.

"Ausraster" nennt Dieter Class dieses Verhalten,
mit dem mehrere Einrichtungen nicht umgehen können, sich weigern, ihn
zu betreuen. Lydia Class pflegt ihn also einige Monate bis zum eigenen
Zusammenbruch. Sie ist 60 als ihr Sohn verunglückt, seine junge Ehefrau
mit dem zweiten Sohn schwanger, Dieter Class - einige Jahre jünger -
ist noch im Berufsleben gebunden. Wie sie ihren Sohn verstanden hat?
Sie antwortet mit einer Gegenfrage: "Haben Sie Kinder?"

Dieter
Class. Der Vater kämpft, liest, schreibt Briefe mit der Bitte um Hilfe.
Erlebt die Einsamkeit in einem Schicksal, für das weder Politik noch
Institutionen eine Lösung haben. Ein Seminar einer Selbsthilfegruppe
von Angehörigen von Menschen mit erworbenen Hirnschäden bringt die
Wende. Moritz musste mangels adäquater Einrichtungen in der Psychiatrie
untergebracht werden. Wo er nur noch vegetierte.

Der ärztliche
Direktor der Liebenauer St. Lukas Klinik meldet sich, denn dort wird
eine neue Station für Menschen mit erworbenen Hirnschäden aufgebaut.
Hier findet Moritz seinen Platz, sein zuhause, Beziehungen und
Verständnis.

Er kommuniziert mittels einer Buchstabentafel,
entwickelt Humor, versteht oft ganz genau, abgewechselt von Verwirrung.
Das Durcheinander in seinem Gehirn lässt ihn von Anfang an verzweifeln
und zwischen Depression und Aggression schwanken. Jeden Sonntag
besuchen die Eltern ihren Sohn, der Vater besorgt eine Rikscha: Der
Sohn vorne auf dem Rollstuhl, der Vater hinten auf dem Fahrrad. Die
vier Geschwister unterstützen, obgleich selbst durch Schicksalsschläge
belastet.

Die Drachenflieger bleiben treue Freunde, richten Grüße
aus, Moritz erinnert sich in manchen Augenblicken präzise an Namen und
Begebenheiten. Bei einem Ausflug deutet er auf einen Raben und
behauptet, dass dies eine Nachtigall sei. Als die Mutter ihn lachend
vom Gegenteil zu überzeugen versucht, antwortet er nicht mit einem
"Ausraster", sondern mit Selbstironie: "Dann ist es halt ein Storch."

 Dieter Class hat erst nur für die Familie geschrieben, auch als
Trauerarbeit, denn der Sohn sei immer bei ihm. Auch jetzt. Und dann
wird er ermutigt, von Diakon Dr. Paulus, von Ärzten und anderen, das
Geschriebene zu veröffentlichen. Er tut es vollkommen uneitel, er
schreibt einfach die Geschichte auf. Seine vielen Fragen, die
Erkenntnisse, wie viele "Welten" es gibt, metaphysisch und praktisch.
Er schreibt es einfach auf. Und das berührt am meisten.

 

aus sz vom 30.6.