Geschichte lebendig gemacht: Christa Dromwicz-Keiner wird mich weinen sehen

In Arbeit

Christa Dromowicz

Keiner wird mich weinen sehen!

Nachkriegsgeschichte
einer aus Schlesien geflohenen Familie
1945-1961 (Arbeitstitel)
ca. 450 S.
Geest-Verlag 2009

Aus der Perspektive des Kindes und Teenagers erzählt die
Autorin das Aufwachsen in Cloppenburg, in das die
vaterlose Familie nach der Flucht aus Schlesien flüchtete.
Sie gibt dabei ein authentisches Stimmungsgefühl über
die Situation der Flüchtlinge in diesen Jahren,
die als 'Fremde' nicht immer willkommen waren.

Leseausschnitt:

An die Flucht und anschließende Vertreibung kann ich mich nicht mehr
erinnern. Meine erste und gleichzeitig schrecklichste
Kindheitserinnerung ist die der Ankunft auf einem düsteren Bauernhof in
Niedersachen im Som¬mer 1946.
Wir besaßen nur das, was wir am Leibe trugen. In meinen Schuhen
steckten noch immer die zerbrochenen Teile des Granatarmbandes. Mutter
besaß nicht einmal mehr ihre Handtasche. Die Papiere trug sie am
Körper, darunter das Wehrbuch ihres verstorbenen Mannes und das
obligate maschinengeschriebene graue Blatt Papier. In der Hand hielt
sie den Einweisungsbescheid für Vertriebene.
So standen wir drei auf dem sandigen Platz eines düsteren Bauernhofes.
An dessen Rand befand sich ein riesiger, rußverschmierter Kessel, unter
dem ein Holz¬feuer brannte. Und davor stand eine alte Frau, die sich
auf einen Stock stützte. Sie trug einen dunklen, grob¬derben, weiten
Rock, der bis auf den Boden reichte und darüber eine dicke, ebenfalls
dunkle Jacke. Alles an ihr sah dunkel aus, das Gesicht war zudem hager
und ihre Haare waren unter einem dicken Tuch, das im Nacken verknotet
war, ver¬steckt. Unter ihrer Nasenspitze bildete sich immer wieder ein
glasklarer Tropfen, der größer wurde und auf ihren Handrücken tropfte.
Ihr Anblick erschreckte mich, aber auch dieser riesige Kessel und das
darunter lodernde Feuer. Mit dem Stock, auf den sie sich vorher
gestützt hatte, stocherte sie in dem Holz herum, das zu knistern
begann. Ich stand wie erstarrt, erwartete jeden Augenblick, dass mich
die Frau ergreifen, in den Kessel werfen und kochen würde.
Und dann geschah das für mich Unfassbare. Mutter ließ meine Hand los,
drehte sich um und machte Anstalten, mit meinem Bruder fortzugehen. Sie
wollte nur die noch erfor¬derlichen Formalitäten bei der
Stadtverwaltung er¬ledigen, aber das verstand ich nicht. Ich geriet in
Panik, schrie wie am Spieß, rannte ihr nach und klammerte mich
verzweifelt an sie.
Und da schlug sie mich.
Ich wollte doch nur nicht, dass sie mich allein zurückließe und sie
schlug mich. Verzweifelt warf ich mich auf den Sandboden und
stram¬pelte. Aber sie ging dennoch.
Voller Angst suchte ich Schutz unter Johannisbeersträuchern. Die so
schrecklich dunkel gekleidete Frau kam mir nach, sprach sogar
freundlich auf mich ein. Als sie sich aber bückte und die Hand nach mir
ausstreckte, um mich aus meinem Versteck herauszuholen, kroch ich unter
den nächsten Strauch. Es gab eine ganze Reihe davon. Die alte Frau wäre
bei ihrem Vorhaben sicher bald vor Er¬schöpfung umgefallen. Ich sah
mich in meiner Fantasie schon unter ihrem weiten Rock ersticken. Mein
Herz schlug irrsinnig schnell und ich hörte es in meinem Hals pochen.
Das Märchen von ‚Hänsel und Gretel’ schoss mir durch den Kopf, zumal
jetzt auch noch eine graue Katze förmlich an ihrem Rock klebte.
Die Bäuerin hatte die Nase wohl gestrichen voll von dem „schrecklichen
Polengör“, wie sie mich später immer nannte, und schlurfte zurück in
Richtung Haus. Vor lauter Er¬schöpfung bin ich eingeschlafen. Erst das
Rufen Mutters und meines Bruders „Christel, wo bist du?“ weckte mich.
Ich konnte es gar nicht fas¬sen. Sie waren zurückgekehrt. Ich fühlte
mich frei wie ein Vogel und flog auf die beiden zu, direkt in Mutters
ausgebreitete Arme. Natürlich heulte ich sofort wieder los, aber aller
Kummer war vorerst ver¬gessen. Den restlichen Tag wich ich allerdings
nicht mehr von Mutters Seite. Man konnte ja nicht wissen