Heiko Schulze las am Grab von Anna Siemsen in Osnabrück
Heiko Schulze
Tote, die zweimal sterben sollen
Müssen manche Tote zweimal sterben? Womöglich gerade die, die uns noch heute etwas zu sagen haben? Dieser Gedanke schießt mir durch den Kopf, während ich an einem verwitterten Familiengrab stehe. Auf einem der Grabsteine zähle ich sichtbare Einschusslöcher. Schon nach wenigen Versuchen verliere ich die Lust, weiterzumachen. Was trieb damals irgendeinen anonymen Schützen dazu, einen alten Grabstein zu beschießen?
Gedankenverloren verweile ich auf dem Osnabrücker Hasefriedhof. Betagte Bäume spenden Schatten und wetteifern mit verfallenen Monumenten darum, wer von ihnen älter ist. Ich verharre in der Grabreihe vorn, gleich hinter der alten Friedhofsmauer aus Bruchsteinen. Von der Süntelstraße aus gesehen, liegt alles ziemlich weit rechts. Irgendwo zwitschern Vögel. Hinter mir grummelt sporadischer Autolärm. Die verträumte Anlage strahlt Ruhe aus. Schon lange wird dieser Friedhof nicht mehr als Bestattungsort genutzt.
Städtische Gärtner sorgen sporadisch dafür, dass dieses alte Gräberfeld seit Jahren ein Park der stillen Erinnerung geworden ist.
Der Text auf einem schmutzigen weißen Schild mit Rostflecken und eigenartigen Brandstellen weist darauf hin, dass sich vor mir ein sogenanntes Ehrengrab befindet, das stadtoffiziell gepflegt wird. Es ist das der Familie Siemsen. Die schwarzen Lettern informieren den Besucher in kurzen Sätzen über ein halbes Dutzend reicher Lebensläufe. Der erste von zwei Absätzen lautet:
„Grabstätte der Familie Siemsen. Mitglieder der hier beigesetzten Familie wurden in den 20er bis 60er Jahren aufgrund ihrer pazifistischen und antinationalsozialistischen Einstellung sowie wegen ihres schriftstellerischen, journalistischen und politischen Engagements zu bekannten Persönlichkeiten. Sie sollten nicht in Vergessenheit geraten.“
Unweigerlich vergleiche ich die Schriftzüge auf den alten Grabsteinen mit den genannten Namen. Der rechte davon ist stark angegriffen und aufgrund der Einschusslöcher besonders mühsam zu entziffern. Ich bin allein und leiste mir den Luxus, halblaut vor mich hin zu lesen: „Prof. Dr. Anna Siemsen. Geboren am 12.1.1882, gestorben am 22.1. 1951“. Das war es schon.
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Was würde Genossin Siemsen heute wohl zum vielkritisierten ‚Bolemie‐Lernen‘ in Schulen und Hochschulen sagen? Über die makabre Praxis, Stoff in Mengen hinein zu futtern, sich prüfen zu lassen, danach alles auszukotzen und zu vergessen? Auch hier gab sie, zitiert von Cornelia Carstens in der Publikation ‚Berlinische Monatsschrift Heft 2/2001‘, zu Lebzeiten eine hochaktuelle Antwort: „Ob es irgendein Mensch betrauern wird, dieses Konversationslexikonwissen, das unsere Examina jetzt feststellen? Wir würden etwas anderes erhalten. Mehr Freiheit menschlicher Entwicklung, mehr Wahrheit und Selbstbescheidung. Und mehr Glück bei Lehrern und Kindern.“
Foto von Ulrich Voss