Markus Fegers - Prinzgemahl (eine Geschichte zum Aschermittwoch)

Prinzgemahl

Eigentlich hatte ich gehofft, den großen Umzug live miterleben zu können, aber alles kam anders: Die Karnevalsfeier im Kinderheim vor den Toren der Stadt, in dem ich die Semesterferien über jobbe, musste natürlich unbedingt an diesem Tag stattfinden.
Frei bekam ich trotz inständiger Bitten nicht, wurde sogar gezwungen, anschließend noch den Saal aufzuräumen und auszufegen. Reine Schikane! Fuhren Busse und Bahnen heute pünktlich? Selbstverständlich nicht. Mit welcher Blauäugigkeit ich darauf vertraut hatte!
Als ich endlich vor Ort bin, ist der Veilchendienstagszug vorbei und die Straßen sehen aus wie ein Schlachtfeld; eine Gruppe lärmender und grölender Jecken zieht Richtung Altstadt, aber ich habe absolut keinen Bock, mich anzuschließen, auch wenn ich das eine oder andere bekannte Gesicht ausmache. Lieber kicke ich zersplitterte Flaschen und matschige Pommes-Frites-Schalen aus dem Weg und laufe alleine in Richtung Busbahnhof. Ohne Vorwarnung springt mich plötzlich eine Gestalt im pinkfarbenen Rüschenkleid an und küsst mich mitten auf den Mund. Ich schmecke süßen Likör, taumele zurück und stehe einer schwankenden Prinzessin mit billigem Plastikdiadem im Haar gegenüber. Ein zweiter Angriff, ein zweiter Kuss.
„Du stinkst nach Schnaps“, sage ich und mache mich los.
„Es klappt nicht“, jammert meine Angreiferin. „Es klappt einfach nicht! Du bist und bleibst ein Frosch …“
„Klar“, sage ich und rücke meine grüne Mütze mit den Tischtennisball-Glubschaugen darauf zurecht. „Was denkst denn du? Ich bin ein Frosch und du hast einen in der Krone …“
„Aber besoffen bin ich nicht“, behauptet die Prinzessin. „Habe nur drei oder vier von diesen bunten Dingern getrunken, höchstens fünf. Jedenfalls kann ich noch gerade gehen. Gestatten: Lea die Erste!“
Lea? Ich schaue genauer. Tatsächlich! Ich glaube es nicht! Aber auch wenn heute ihre typischen Erkennungsmerkmale wie formloser Strickpulli und gigantische Kassenbrille fehlen: Es ist eindeutig die lästige Lea, vor deren amourösen Nachstellungen ich während unserer gesamten gemeinsamen Schulzeit geflüchtet bin.
Sie versucht sich an einem eleganten Knicks, verliert sofort die Kontrolle über ihre Beine, und nur mein energischer Zugriff rettet sie vor schmerzhaftem Bodenkontakt.
„Du gehst aber ran, Frosch“, kichert sie in meinen Armen. Ich verdrehe die Augen. Die echten, nicht die meines Kostüms.
Langsam nähert sich eine riesige Kehrmaschine der Straßenreinigung und hupt warnend. Orangefarbene Männer mit großen Reisigbesen unterm Arm versuchen uns mit Handzeichen auf den Bürgersteig zu treiben. Lea die Erste grüßt huldvoll. „Meine fleißigen Untertanen“, sagt sie, „immer um die Sauberkeit des Königreichs bemüht …“
„Klar doch.“ Rasch ziehe ich sie aus der Gefahrenzone.
Lea schmiegt sich an mich und leiert: „Ich bin allein, du bist allein, willst du nicht heute mein Prinzgemahl sein?“
Ich starre sie an. „Was ist denn das für ein bescheuerter Spruch?“
„Bescheuert?“, fragt die Prinzessin empört. „Selbst ausgedacht, und reimen tut er sich auch!“
„Klar doch!“
„Du wiederholst dich“, kichert die Prinzessin. „Und ich wiederhole mich auch gerne: Bitte, bitte, sei doch heute mein Froschkönig, mein Prinzgemahl, mein Liebster …“
Ihr unvermittelt angesetzter dritter Kuss, ebenso überraschend wie herzhaft, schwächt dank seines enormen Alkoholgehaltes meine Abwehrkräfte. Hilflos ergebe ich mich in mein Schicksal – wohl wissend: Lange wird Leas Regentschaft nicht dauern, denn morgen ist Aschermittwoch, und am Aschermittwoch ist bekanntlich alles vorbei …