Meinrad Brink - Das Gespräch

‚Das Gespräch‘ nennt Joseph Krautwald sein Werk. Zwei junge Frauen, auf einer Parkbank sitzend, haben scheinbar alles um sich herum ver-gessen und sind nur noch füreinander da. Die eine im gesammelten Schweigen vor sich hinblickend, ganz offen für das, was die andere ihr sagt. Die Jüngere, vertrauensvoll der Älteren zugewandt, erwartet ungeduldig deren Antwort. Man sieht es beiden an, wie wichtig für sie dieses Gespräch ist.

Der bekannte Psychologe Reinhard Tausch hat in seinem abschließenden Bericht über eine wissen-schaftliche Untersuchung zu der Frage, wie man mit seelischen Belastungen und Stress fertig werden kann, Folgendes festgestellt:
•    Zur Frage ‚Was hat Ihnen in der Krise der Trennung von einem Partner geholfen?‘, nannten 73 % der Befragten das Gespräch mit Freunden und Bekannten;
•    zur Frage nach der Bewältigung schwerer Lebenskrisen gaben 63 % das Gespräch an;
•    für den Umgang mit schwierigen und unlösbaren Problemen im Alltagsstress waren Gespräche mit verständnisvollen Menschen für 59 % hilfreich;
•    für die Bewältigung von schweren und be-lastenden Schuldgefühlen gaben 47 % der Befragten Gespräche mit verständnisvollen dritten Personen als Hilfe an;
•    im Umgang mit sorgenvollem und belas-tendem Grübeln und nagenden Gedanken nannten 31 % das Miteinandersprechen, Verstanden- und Akzeptiertwerden als be-sondere Hilfe.

Als Merkmale hilfreicher Personen werden ange-geben:
→    Achtung, Respekt, Ernstnehmen, Wärme, positive emotionale Zuwendung;
→    Zurückhaltung beim Reden, wenig Lenkung der Gespräche, keine Anweisungen;
→    keine Bewertung von Schwächen, nicht kri-tisierend, nicht verletzend;
→    sensible Einfühlung, verstehend, was der Belastete ausdrücken will;
→    neue Sichtweisen ermöglichend, Anregun-gen gebend.

Krautwald hat nicht ohne Absicht die beiden miteinander Sprechenden auf eine alleinstehende Bank in einem Park postiert. Der hintergründige Sinn dieser Szene ist die notwendige Zurückgezogenheit abseits von Lärm und Hektik der Straße, um sich in Ruhe auf den anderen einzulassen, ihn ins Vertrauen ziehen zu können und ihm die sonst fest verschlossenen Türen des eigenen Ichs zu öffnen. Das Bild vermittelt den Eindruck tiefer Harmonie zwischen diesen beiden Frauen. Es spiegelt eine innige Atmosphäre der Freundschaft und Vertrautheit im gegenseitigen Geben und Nehmen.
Ein gutes Gespräch umfasst nämlich beides: Wort und Antwort, Reden und Schweigen. Nur so vermittelt es beiden innere Beglückung und hei-lende Nähe. Jeder weiß, dass der andere es gut mit ihm meint und wie ein guter Engel ihn auffängt und mitträgt.
Schweigen – Hören – Verstehen – Antworten, das sind die Voraussetzungen dafür, dass ein Gespräch zur echten Begegnung werden kann, die Krisen überwinden hilft, aus der Resignation befreit und neue Kräfte freilegen kann.

Gerade heute, so meint der Psychologe Volker Faust, sind solche Beziehungen zu einer Notwendigkeit geworden. In seinem Buch ‚Seelische Stö-rungen heute‘ schreibt er:
„Zwischenmenschliche Beziehungen auf jeder Ebene schützen vor dem ‚Ausbrennen‘. Das sieht zwar jeder ein, doch bei immer mehr Menschen kommt es durch die berüchtigte Stress-Spirale zum ‚leisen Einschlafen der Beziehungen …‘.
Kontakt braucht nicht nur Zeit, sondern auch Kraft. Also geht er verloren, wenn man dauernd ‚gestresst‘ und überfordert ist. Doch das hat fol-genschwere Konsequenzen, und zwar nachhaltiger, als man dem Faktor ‚Pflege der Beziehungen‘ zutrauen würde. Man beginnt nämlich, still und leise zu vereinsamen. Und dann traut man sich im Falle der Not nicht mehr anzurufen und hätte etwas Zuspruch doch so bitter nötig. Kurz: Kontakte müssen sorgfältig gepflegt werden, vor allem in Zeiten, in denen man sie nicht zu brauchen scheint. Sonst kann man bei Bedarf nicht ernten.“

Was für die Gesprächskultur im profanen zwischenmenschlichen Bereich gilt, ist von noch größerer Bedeutung auf religiöser Ebene. Kraut-walds Plastik zieht keine Grenze zwischen diesen beiden Welten. Seine Figuren erinnern unwillkürlich an biblische Gestalten wie Maria, von der es heißt, dass sie alles, was ihr über das Kind gesagt wurde, in ihrem Herzen bewahrte und erwog. Oder an die Begegnung zwischen Maria und Elisabeth, deren Gespräch zu einer beglückenden inneren Einsicht und geistigen Tiefe führte.

Im Christentum kommt dem Wort eine besondere Rolle zu, da das Wort Gottes für uns ‚Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat’. Es wurde zur Brücke zwischen Gott und den Menschen, es vermittelt die Erfahrung von Angenommensein, von persönlicher Würde und liebender Bejahung. Auch das Innerlichste und Persönlichste, selbst Schuld und Sünde können zur Sprache kommen. Alles kann ausgesprochen werden und im liebenden Du Befreiung, Vergebung und Heilung finden.
Und wenn ich Gott im Gespräch mein Herz und meine leeren Hände hinhalten, mich in ihn hinein-fallen lasse, dann werde auch ich selbst befähigt, ‚Wort-Brücken‘ des Vertrauens unter den Menschen zu bauen.