Nina Tröger - Von Sinnen

Von Sinnen

Ich weiß nicht, wie das Leben schmeckt.
Meine Zunge ist belegt und mit Worten verdreckt,
ich schmecke versalzen und mag nicht reden.
Manche Tage sind sauer.
Es liegt Geschmacklosigkeit auf der Lauer,
der nichts entgegnet.
Um das alles reinzuwaschen, wünschte ich, dass es regnet,
doch auf alle Wünsche fällt saurer Regen.
Manche Nächte sind süß.
Wenn der Zucker des Lebens sich über mich ergießt,
denke ich, das ist es, was andere meinen, das süße Leben!
Aber wenn er andauert, der Bonbon-Geschmack, dann beginnt die ganze Welt um mich herum zu kleben.
Und ich hab' keine Ahnung, wie es wirklich schmeckt zu leben.

Ich weiß nicht, wie das Leben gehört.
Ich bin vom Zuhören verstört,
kann sie nicht mehr hören, die Ratschläge und Regelwerke,
Werte, Normen, Vorschriftsberge.
Wenn Du älter wirst, sagt man, wirst Du auch weise,
doch beizeiten wünscht' ich, alles wäre leise
und ich müsste nichts mehr hören,
keinem gehorchen und zu keinem gehör'n.
Ich halte mir die Ohren zu, bin für Fragen und Antworten taub.
Und soll ich zu diesem oder jenem meine Meinung geben,
dann finde ich mich selbst zu laut.
Und ich weiß wirklich nicht, wie es sich gehört zu leben.
Ich weiß nicht, wie das Leben riecht.
Ein betörender Duft erfüllt den Raum,
ein Geruch, der in alle Ecken kriecht,
dann duftet der Tag wie im Märchentraum.
Jedes Schnuppern und Schnüffeln ein bezaubernder Genuss,
bis ich irgendwann feststellen muss,
dass die Zeit sogar Rosen zum Welken bringt
und jeder fantastischste Duft mir irgendwann stinkt.
Und wenn jeder hier jedem in den Hintern kriecht,
möchte ich auch gar nicht wissen, wie das Leben riecht.

Ich weiß nicht, wie das Leben aussieht.
Ich tappe im Dunkeln und warte,
dass sich die Wolke vor der Sonne verzieht.
Ich habe eine Schwäche für Rot und Grün,
doch es fehlt das Licht, um Farben zu sehen.
Dann suche ich im schwarz-weißen Alltag des Lebens
die Grautöne und das, was dazwischen sein könnte, vergebens.
Und ich weiß selbst mit den Farben von gebogenem Regen
nicht zu beschreiben, wie es aussieht, das Leben.

Ich weiß nicht, wie sich das Leben anfühlt.
Oder Lieben. Mein Herz ist aus Stein.
Ich bin abgestumpft und unterkühlt.
Und ich bin gerne allein.
Ich habe Sehnsucht nach der Sehnsucht, danach, jemanden zu entbehren. Ich möchte Trauer und Enttäuschung spüren, um mich mit Freude und Glück dagegen zu wehren.
Ich wünsche mir eine Schmetterlingsinvasion, die durch meine Seele fliegt, denn ich hätte gern eine Ahnung, wie man wirklich liebt.

Ich hab' keinen guten Geschmack für Wein oder Kleidung oder was auch immer.
Ich bin nicht gehorsam, ich gehöre keinem. Es gibt keine Obrigkeit und keine Bestimmer.
Mein guter Riecher für Situationen
ist verschnupft.
Ich schieße mit Spatzen auf Kanonen.
Hab' mir mit Sinnlosigkeit die Nase geputzt.
Mein Augenmerk liegt immer woanders.
Ich hab' keine Weitsicht, mein Blick ist nicht klar.
Für meine Augen ist selbst Unwesentliches unsichtbar.
Es trügt mich meistens mein Bauchgefühl, dann denke ich, ich mach' es richtig,
aber anderen ist anderes wichtig,
und das Ergebnis ist, dass ich mich frage,
welchen Sinn ich eigentlich noch habe!
Weil Momente verbittert sind
und die Seele ist taub, weil alle Worte erstunken sind.
Und wenn jeder die Augen verschließt, ist das Kollektiv blind.
Und niemand sieht, dass die Gefühle tiefgekühlt sind.



Doch ich möchte tiefgefühlt werden,
ich möchte statt gar nicht zu leben lieber sterben.
Ich möchte beginnen,
mich wieder zu besinnen auf das, was ich eigentlich kann:
Auf Wolken schweben,
verlorene Ein-Cent-Stücke von der Straße aufheben,
fragenden Kindern eine Antwort geben,
mich über Kleinigkeiten aufregen
und direkt danach allen vergeben,
nach Tieferem streben,
mich nach einem Glas Rotwein bereits übergeben,
wenn alle nur schweigen, die Stimme erheben,
alte, zerkratzte Vinyl-Platten auflegen,
abgemähte Gänseblümchen wiederbeleben,
vor dem Sprechen gut überlegen
und dann doch irgendwie nur Blödsinn reden,
bis ich vollkommen von Sinnen bin.
Weil im Leben der einzige Sinn
der Leichtsinn ist.