Reinhard Rakow zu "Sich fremd werden" — zu Helga Bürsters Hörspiel "Ik kenn di nich" in Radio Bremen

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"Sich fremd werden" — zu Helga Bürsters Hörspiel "Ik kenn di nich" in Radio Bremen

"Sich fremd werden" und "Die Welt nicht mehr verstehen" hat Jean Améry zentrale Kapitel seines Buches "Über das Altern. Revolte und Resignation" betitelt. Die Konversion vom Ich zum Nicht-Ich, die Ich-Dissoziation, illustriert Améry am eigenen körperlichen Verfall, wahrgenommen als Seins- und als Selbstentfremdung, "Tag und Nacht heben einander auf in der Dämmerung". Zur Symptomatik führt er aus: "Wer an die Schwelle gerät ... muss irgendwann erfahren, dass er die Welt nicht mehr versteht"; der Altwerdende übt sich im Widerstand gegen das Neue und Ungewohnte, ein "taubes Gefühl des Missbehagens" an der Welt, die ihn umgibt, greift Raum, die Beherrschung der Syntax der Zeichen der Wirklichkeit kommt schleichend ihm abhanden.

Améry hat dieses Buch mit 56 geschrieben — zehn Jahre vor seinem Freitod also — , 1968, zu einer Zeit, in der Altern für sich schon Schrecken genug schien, zu einer Zeit, da Demenz in ihrer Ausweglosigkeit noch nicht entdeckt war vom kollektiven Bewusstsein, kaum einer sich vorzustellen vermochte, wieviel Grauen das bedeuten kann: "Sich fremd werden" und "Die Welt nicht mehr verstehen" unter der Ägide eines sich entkernenden, dementen Gehirns. Die Unsäglichkeiten an Verlust und Verfall, die von Amérys Alterndem zu gewärtigen sind, scheinen uns heute neben denen, die einem von Demenz Heimgesuchten bevorstehen, als nachgerade läppisch; uns stellt Demenz sich dar als schrecklicher Kern, als brutales Kondensat des Améryschen Alterns: als das eben, was jedem droht, dessen Altwerden von der Höllenmaschine Demenz zentrifugiert wird.

Helga Bürsters niederdeutsches Hörspiel "Ik kenn di nich", inszeniert von Frank Grupe für Radio Bremen, zieht den Hörer ohne Vorwarnung und ohne Umschweife direkt ins Zentrum dieser Höllenzentrifuge. Hans Albers singt "La Paloma", Kaffeetassen klappern und Theo, der Demente, hebt wimmernd an, seine Mama zu befragen, wann er nach Hause gekommen sei. Hanna, seine Frau, versucht vergebens, ihm klar zu machen, dass die Mama schon lange tot ist, als eine Panikattacke aus den Bombennächten der Kindheit ihn schüttelt, er schreit, jault: "Stah op! Mama! Du blots! Al dat Bloot!" Und Schnitt.

Mit dieser ersten von 21 holzschnitzartig kantigen Szenen ist, ganz im Sinne einer klassischen Einführung, der Plot arrondiert und die Liste der Zutaten übersehbar: — "La Paloma", das die folgenden 45 Minuten durchwehen wird wie Heines weißer Weiberrock die Fantasien des Halluzinierenden in der "Symphonie fantastique", "La Paloma" also steht für jungen Theo, seine Jugend, seine Liebe zum Meer und zu den Schiffen, für sein Boot "Marianne", zugleich für seinen "Drei Mann in einem Boot"-Tick; wenn der Film heute läuft, rund um die Uhr vom Videogerät genudelt, soll das Theo beruhigen (ja, natürlich: sedieren); für Ute, die Tochter, ist kontrastiert der "deutsche Wohlstandshumor" des Streifens die "Zermürbung des Sterbens", — Theo, der die Welt nicht mehr versteht und sich selbst fremd wird, fremder und fremder, der weder Frau noch Tochter noch Pfleger erkennt, der sich mit Mutter und Bruder, beide im Krieg gestorben, unterhält, der von eben auf gleich ncht mehr weiß, dass er sich gerade eben den Bauch vollgeschlagen hat und ständig danach greint, gestopft zu werden, der dabei doch immer weniger, immer kindischer wird, regredient, Theo, der das Hochdeutsche verlernt, von Bomben faselt und unter Fallschwindel leidet, der die Liebe seiner Frau vergessen hat und sich selbst vergisst, — schließlich Hanna, seine Frau seit 50 Jahren, die unter Verleugnung ihrer eigenen Würde, sich selbst, ihre Erschöfung und ihre Ekel überwindend, zu ihm halten, ihn zu Hause behalten und dort pflegen will. Im folgenden werden Ute, die 50-jährige Tochter, die als einzige Hochdeutsch spricht, selten zu Besuch kommt, und wenn, um als Stimme der Vernunft Unbequemes loszuwerden, sowie Dieter, ein ehemals guter Freund Theos, er kaufte ihm die "Marianne" ab, die Personalliste anreichern, zum Schluss der Pfleger und ein Arzt.

Damit fächert Bürster die Handlung ihrer bei den Dritten Berner Bücherwochen 2011 ausgezeichneten Erzählung "minimal death" äußerst sparsam und zielhaft auf. Kargheit und Eindringlichkeit der Geschichte bleiben erhalten; die Ausbreitung der Vorgeschichte und die Verteilung auf mehrere Rollen vertiefen und steigern die Wirkung. Leser und Hörer werden gefangen, obwohl und weil sie von Beginn wissen, was kommt.

Was kommen wird: der Tod des Königs, Theos finaler Zusammenbruch, ist bei dieser Ausgangslage unausweichlich. Bürster treibt ihre Figuren, in deren Zentrum Theo und Hanna und die Zentrifuge Demenz, mit gnadenloser Konsequenz auf- und gegeneinander und dabei Stück für Stück diesem Ziel entgegen. Viel passiert darüber eigentlich nicht, doch wie das Wenige passiert, raubt es einem den Atem. Gebrochen durch anrührende Rückblenden in glückliche Tage — die gemeinsamen Bootsfahrten, das erste Kind, traute Momente im Kreis der Familie — wird verhandelt die Not des Dementen und seiner Angehörigen. Theo also hat vergessen, wer Hanna ist, Theo sucht Karl, den toten Bruder, Theo weint nach seiner toten Mama, Theo muss gefüttert werden, zur Toilette gebracht und so fort. Hanna funktioniert, tut dieses, jenes, alles, meint bisweilen, sie könne nicht mehr, kann dann aber doch, rafft, opfert sich auf, immer wieder, immer neu, und so weiter und so weiter. Das alltägliche Elend plätschert grau und kalt, und es wird einem eisig beim Zuhören. Des Dramas Ende rückt näher, der Zerfall ist stetig und wie so oft schäbig und lapidar. Philipp Roths "Jedermann" befällt ein "taubes Gefühl", als er wahrnimmt, wie sein Adressbuch mehr und mehr zur Gräberliste eines Friedhofs mutiert. Bürsters Theo bemerkt in seinen seltenen klaren Momenten, dass etwas in seinem Kopf nicht stimmt. Zu erkennen, dass er, wiewohl körperlich noch am Leben, sozial bereits wenigstens ebenso tot ist Roths von allen Freunden geschiedener Held, ist er freilich außerstande; seine Taubheit ist schon der Art, dass er die Abwendung der Tochter, des Freundes ("So wat mag man sick garnich mit ankieken"), nicht mehr realisiert.

Dann, in der 16. Szene, die Explosion. Unvermutet knallt eine Sicherung durch, die Zentrifuge wird immer schneller, überschlägt sich. Eine Alltagssituation, Hannas Bitte, Theo möge zur Seite rücken, reicht als Brandbeschleuniger: Man hebt die Hand gegeneinander, es wird geschrien, geheult, geweint — und gelacht. Gelacht, gebrüllt, gewiehert von Theo, der sich in die Hosen pisst. Wie dieser Moment umschlägt von liebevoller Fürsorglichkeit über Zufallsgewalt in puren Ekel, von Liebe in Hass, wie Zärtlichkeit in Entgleisung endet, in Entmenschung, setzt Bürster so beklemmend, so meisterlich in Szene, dass Uwe Friedrichsen als Theo und Elfie Schroth als Hanna die ganze Wucht und Brillanz ihrer Sprecherkunst einbringen können. Wenn Friedrichsen hier vom Schreien ins Weinen und dann mit einem Mal, hörbar getragen von Selbstscham wie vom Hochgefühl blöd-brutalen Obsiegens, ins blödig brüllende Lachen glissandiert, laufen dem Hörer Schauer des Entsetzens über den Rücken. Nein, solch Elend wünscht man keinem, nicht einmal seinem ärgsten Feind — und schon gar nicht sich selbst!

Gerade in dieser Szene schreckt Bürsters sezierkalte Wahrhaftigkeit vor kaum etwas zurück. Altern in der Hölle der Demenz taugt nicht zur Gaudi. Hanna zum Beispiel ekelt sich vor Männerpisse; wenn Theo dann zum großen Geschäft hilflos auf der Toilette hockt, freut sie sich, denn das ist Zeit, die sie ungestört für sich hat und die sie deshalb überdehnt, eine kleine, billige Revanche für all die Demütigungen, die er ihr antut Tag für Tag. Hannas Erschöpfung äußert sich in einem Monolog ("Ik bün so möh. Ik gah in de Köken, sett mi an Disch. Ik strakle de Plastikdeeken glatt. Pflegelicht. Damit ik dat afwischen kann, wenn he keudelt." ...), der zusammen mit anderen in aller Schlichtheit und Schnörkellosigkeit die Zumutungen des Zusammenlebens mit einem Dementen auf den grausamen Punkt bringt, licht- und hoffnungslos, es ist, als sänge die Callas "La mamma morta". Dabei ward Platt snackt, das lässt das das Anrührende weicher, das Unsägliche borstiger, härter werden, und so widerlegen die Programmverantwortlichen mit diesem Hörspiel (erneut) das Vorurteil, Platt tauge in erster Linie für Schmonzetten und krachlederne Komödien. "Ik kenn di nich" gewinnt im Gegenteil dank des Gebrauchs von Platt eine Tiefenschärfe, wie sie ohne das spezifische Kolorit des Eingebundenseins in die Heimat des niederdeutschen Idioms gar nicht denkbar wäre.

Das Ende vollzieht sich unausweislich, ungeglättet und in kompromissloser Schwärze. Der Zusammenbruch wird durch nichts geschönt, nicht durch Hoffnung erleichtert, durch Trost nicht erhellt.

Zum Schluss seines aufrüttelnden und doch im Ausblenden der Hölle Demenz uns heute so harmlos vorkommenden Buches "Über das Altern" schreibt Amery: "Hat A (Amery, der Autor, der Alternde) irgendetwas getan, auf dass das Gleichgewicht gestört, der Kompromiss bloßgestellt, das Genrebild zerstört, der Trost verscheucht werde? Er hofft es. Die Tage schrumpfen und trocknen ab, da hatte er Begehr, die Wahrheit zu sagen."

B. hat sie  gesagt.

Anmerkung:
Helga B.s Hörspiel, Ursendung 3. August 2012, kann nachgehört werden im Internet in der ARD-Mediathek.

http://www.ardmediathek.de/nordwestradio/radio-bremen-niederdeutsches-hoerspiel?documentId=11322112