SARAH VON LÜTTICHAU, lautlos

SARAH VON LÜTTICHAU, BERLIN
lautlos

Die Werbesendung flimmert warm über mein Gesicht. Ich ertrage die Stille nicht, der Fernseher läuft, immer. Ich liege auf dem Sofa und sehe die Bilder, sehe die Menschen. Doch ich kann die Zusammenhänge nicht erkennen. Mein Körper hält mich in einem stetigen Zustand der Unaufmerksamkeit gegenüber der Außenwelt. Ich muss mich bewegen. Meine Beine schmerzen, mein Körper schmerzt. Jede Position ist nur für Minuten akzeptabel. Körperlicher Schmerz ist die schlimmste Einsamkeit, die ich je erfahren habe. Er hat mei-nen Körper übernommen. Lässt mich sprachlos zurück.
Kannst du dich noch an die Schneemelancholie des letzten Winters erinnern? Schnee ist lautlos, dämpft die Geräusche der Stadt, der Welt, verändert sie. Nur Momente, kurzes Innehalten. Wir saßen in dieser Altbauwohnung, die nicht warm werden wollte. Schneekristallkälte an den Fenstern. Du sag-test etwas über konstruierte Kälte und das Gas sei viel zu teuer geworden, dazu gab es Rotwein und Zigaretten. Jetzt bist du nicht mehr da, wie die anderen, weil für mich Treppenhäuser zu einem Problem geworden sind. Und dieser Winter? Ja, doch, so fühlt sich das gerade in mir an.
Ich versuche mich aufzusetzen. Ich habe Hunger, ich muss unbedingt duschen und nach der Post schauen. Ich kann das nicht alles schaffen, das weiß ich. Doch anstatt dass ich ir-gendwas tue, irgendwas, fange ich wieder an zu heulen. Die Einsamkeit allein ist nicht der Grund. Alles, was mit der Ein-samkeit kommt, macht diese erst unerträglich. Angst, Unsicherheit, Hoffnungslosigkeit. Meine Einsamkeit ist die Abwe-senheit von Gesprächen mit dir, von Ablenkungen. Jetzt verschwimmen die Tage und haben weder Anfang noch Ende. Die Zeit spielt dabei keine Rolle mehr, sie unterteilt nicht, hilft nicht zu strukturieren, weil sie nichts mehr aussagt. Zeit macht nur Sinn, wenn mit ihren Stunden Bedeutung einher-geht.
Ich stehe auf. Ich muss mich ein wenig bewegen. Die Schmer-zen vom ständigen Liegen vermischen sich mit dem Rest der Schmerzen. Ich gehe in der Wohnung langsam auf und ab. Gehe vom Wohnzimmer in die Küche und zurück. Gehe vom Wohnzimmer in das Schlafzimmer und zurück. Ich versuche mich zu erinnern, wie es war, als das Wort Energie noch nicht meinen Tagesplan zerschnitt. Ab wann jede Tätigkeit auf eine Waage gelegt werden musste. Im Park spazieren gehen, danach Freunde treffen, der Katze noch was in die Futterschale geben. Alles Einheiten, die so weit in ihre Einzelteile zerfallen sind, dass sie nicht mehr zu bewältigen sind. Ich erinnere mich, wie alles selbstverständlich war, wie ich mit dir zusammen im Park saß. An diesem Sommerabend. Wir mussten so lachen, meine Wimperntusche war völlig verschmiert. Wir hatten diesen Korb auf dem Flohmarkt gekauft und wollten so ein richtiges Picknick machen. Aber dann waren da überall Ameisen, der Sekt war warm und schäumte über die karierte Decke, alles hat geklebt. Aber der Gedanke ist so groß, dass ich ihn gleich wieder fallen lasse. Er hat hier einfach keinen Platz mehr. Es ist wie ein anderes Leben, in das man sich manchmal hineinträumt, aber wieder aus dem Sinn schlägt, so realistisch wie ein Lottogewinn, etwas, das doch immer nur den anderen passiert.
Es klingelt an der Tür. Ich bin gerade im Flur und so in meinen Gedanken, dass ich nach der Klinke greife, wie ein Reflex. Ich erschrecke mich, weil ich das sonst nie tue, einfach aufmachen. Ich starre den jungen Mann an, der vor mir steht. Ich merke, wie ich rot werde, das passiert mir immer. Ich starre einfach nur geradeaus. Mein Blick ist auf seinen gemusterten Strickpullover geheftet. Ich verschlucke meine Worte. Er über-reicht mir einen Brief. Ich schaue ihm kurz in die Augen.
„Der war bei mir im Briefkasten.“
Ich sage kein Wort, weil normal gewesen wäre, den Brief ein-fach in den richtigen Briefkasten zu werfen, also, was stimmt hier nicht, was will diese Person von mir? Ich sage nichts. Nehme den Brief und schließe die Tür. Mein Herz klopft und ich bewege mich nicht. Bis ich höre, wie sich das Geräusch seiner Schritte langsam entfernt.
Ich gehe ins Badezimmer und schaue mein Spiegelbild an. So hatte er mich gesehen. Ich schließe die Augen. Ich verab-scheue mich, warum habe ich mir seit fünf Tagen nicht die Haare gewaschen, warum musste ich immer so aussehen?
Ich halte mich mit beiden Händen am Waschbecken fest. Ich atme tief ein. Konzentriere mich auf meinen Brustkorb, der sich langsam hebt und senkt. Ich habe das Gefühl, langsam zu verschwinden. Ich bin nur noch diese Krankheit. Bin nur noch eine Person mit Krücken, eine Person im Rollstuhl. Wenn ich mit euch spreche, bin ich Heldin, Versagerin, muss kämpfen oder akzeptieren. Dabei bin ich nichts von alledem. Ich war mal eine Freundin, wo ist das hin?
Ich wische mir mit dem Handrücken den Rotz unter der Nase weg. Dann gehe ich in die Küche und öffne den Kühlschrank. Ich schaue einfach nur in das kalte Licht. Ich habe nicht eingekauft. Ich weiß nicht, was ich mir aus dem, was da ist, machen soll. Ich bin müde, meine Augen sind geschwollen. Ich habe keine Kraft mehr, noch irgendwas zu tun. Allein darüber nachzudenken wird zu anstrengend. Jede noch so kleine Idee wird wie Papier zusammengeknüllt und fallen gelassen. Ich schließe den Kühlschrank und drehe mich um. Auf der Arbeitsplatte liegen Schachteln mit Medikamenten. Ich drücke zwei Tabletten aus der Blisterverpackung. Die Schmerztabletten, die mich so müde machen, dass ich davon einschlafe. Für ein paar Stunden Ruhe vor dem eigenen Körper, vor den Gedanken. Eigentlich mag ich das nicht, weil es das Gegenteil von dem ist, was ich möchte. Das hast du nicht verstanden. Ihr habt nie verstanden, wie es ist, wenn man keine Wahl mehr hat. Meine Identität war doch auch an meine Entscheidungen geknüpft. Und nun bin ich ganz leise verschwunden und wurde von et-was ersetzt, von dem ich noch nicht weiß, was es ist.
Ich gehe zurück und setze mich auf mein Sofa. Es drückt weich gegen die Schmerzen, fühlt sich sicher und vertraut an. Ich nehme die Fernbedienung und schalte auf einen anderen Kanal. Hier wird die Wiederholung einer alten Serie gezeigt. Ich kenne jede Folge. Ich beuge mich nach vorne, um nach dem Wasserglas zu greifen. Mit der anderen Hand werfe ich mir die Tabletten in den Mund und spüle sie mit einem kleinen Schluck herunter. Das digitale Lagerfeuer flackert wieder warm über mein Gesicht. Eine Werbesendung läuft. Ein paar Kinder lachen. Ein Auto. Sonnenschein. Ich lehne den Kopf an. Die Schmerzen lassen langsam nach, mein Körper entspannt sich, ich wiege hin und her. Ich schließe die Augen, das ferne Grundrauschen schließt mich ein, umhüllt meinen Körper. Meine Gedanken werden klein. Als die Sendung beginnt, öff-ne ich die Augen und eine Geschichte von weit weg lässt mich vergessen. Die Figuren vertraut. Ich lächle sie an. Hier fühle ich mich sicher. Ich bin mit ihnen unterwegs. Wir gehen zusammen zu der Überraschungsparty. Ich lege mich hin. Ziehe die Wolldecke über mich. Ich spüre die Wärme und die Welt verschwindet.