Stefanie Radek - Liebe Lizzy!
Stefanie Radek
Liebe Lizzy! Im Januar 2021
Ich hoffe, du nimmst es mir nicht übel, dass ich so viele Jahre nicht geschrieben habe.
Manchmal hätte ich dir gerne geschrieben.
Besonders dann, wenn ich auf der Suche nach Ver-ständnis war, denn
du hast mich verstanden.
Dir musste ich nie etwas erklären.
Doch wo hätte ich anfangen sollen.
Ich habe keine Erinnerung daran, wann ich zuletzt geschrieben habe.
Für ein Anknüpfen an den letzten Brief, ist es ohnehin viel zu spät.
Sicher hast du keine Ahnung, was gerade passiert.
Wir befinden uns inmitten einer weltweiten Pandemie, deren Ende bisher nicht abzusehen ist, obwohl Impf-stoffe gefunden wurden.
Es ist eine ganz merkwürdige Zeit, dieser Lockdown.
Meine Geduld, auf das Ende der Pandemie zu warten, ist allmählich erschöpft.
Du hast es gut. Papier war schon immer geduldig.
Vor der Pandemie hatte ich viele süße und auch einige bittere Momente.
Manchmal sogar beides im selben Augenblick.
Bitter-süß oder süßlich-bitter.
Die jetzige Zeit erscheint mir oft wie ein schlechter Traum, aus dem ich einfach nicht aufwache – fast nur bitter, ganz ohne den süßen Beigeschmack!
Wirklich süß, erscheinen mir nur noch die sehr, sehr selten gewordenen Augenblicke in Gesellschaft. Sogar süßer als jemals zuvor!
Als Kind fühlte ich mich auch sehr allein, ohne echte Freunde.
Traurig war ich deshalb nicht.
Weißt du noch, wie oft ich mich in eine andere Wirklichkeit träumte?
Diese andere Wirklichkeit war immer angenehm süß.
Du kannst dich bestimmt an die wilden Abenteuer erinnern, die ich mit Muhammad, Clarence, Lotta und Roland erlebte.
Niemand, außer dir und mir, wusste, dass ich jeden Tag nach der Schule von meinen erdachten Freunden abgeholt wurde.
Sie sollten mich vor den boshaften Kindern aus der vierten Klasse beschützen, die den Jüngeren auflauerten, um sie zu verspotten und zu drangsalieren.
Wenn der Anblick von Clarence, dem schielenden Löwen, die bösen Kinder nicht sofort vertrieb, dann klau-te Pippilotta ihnen die Schulranzen, und Muhammad Ali warf sie in die Brennnesseln.
So konnte ich auf dem Rest des Heimwegs mit Roland Kaiser lauthals seinen Schlager „Frei – das heißt allein“ singen.
Obwohl es mir rückblickend vor Sorge eher den Schweiß auf die Stirn treiben sollte, muss ich heute bei dem Gedanken daran meist schmunzeln.
Imaginiert, hätte es ein Kinderpsychologe wahrschein-lich uncharmant ausgedrückt.
Zum Glück hatte ich keinen Psychologen.
Ich hatte einen netten Klassenlehrer.
Er schrieb wohlwollend in mein Zeugnis, ich sei eine „phantasievolle, kreative Schülerin“ gewesen.
Das klingt wesentlich netter, als eine unschöne Diag-nose eines Psycho-Klempners.
Wir beide, du und ich, sind uns bestimmt einig, dass ich damals tatsächlich noch alle Tassen im Schrank hatte.
Schließlich waren meine geheimen Freunde nicht völlig erdacht.
Nur, dass sie meine Freunde waren, hatte ich frei erfunden.
Manchmal, in diesen Tagen des Lockdowns, wünsche ich mir meine geheimen Freunde wieder her.
Ich könnte ihre Gesellschaft zurzeit wirklich gut gebrauchen.
Wenn der Anblick von Clarence, dem schielenden Löwen, die böse Corona nicht vertreibt, dann klaut Pippi-lotta dem Prof. Dr. Wieler, und seinem Kumpel Prof. Dr. Drosten, die Schulranzen.
Danach schubst Muhammad Ali den Söder und den Spahn in einen Haufen Brennnesseln.
Es wäre zwar niemandem geholfen, wenn Söder und Spahn in einem Haufen Brennnesseln landeten, aber die Vorstellung ist ziemlich amüsant.
Gassenhauer von Roland Kaiser sänge ich heute allerdings bestimmt nicht mehr.
Vielleicht sollte ich die bittere Realität von heute einfach mit einer ordentlichen Portion süßem Humor wür-zen.
So wie man süßen Zucker auf eine bittere Grapefruit streut.
Das ist wesentlich besser, als sich die Zeit mit imagi-nären Freunden zu vertreiben.
Meine liebe Lizzy, vielen Dank für das stumme Zuhören zu so später Stunde. Niemand versteht mich so gut wie du.
Ich verspreche, bald wieder zu schreiben.
Herzliche Grüße von deiner
Maria