Ulrike Schäfer rezensiert Volker Gallés 'Flügelschlag des Raben' in der Wormser Zeitung
Eine Tür in den Wolken
WZ vom 28.12.2010 - WORMS
Von Ulrike Schäfer
LITERATUR Volker Gallés neuer Gedichtband „Flügelschlag des Raben“
http://www.wormser-zeitung.de/region/worms/meldungen/9774976.htm
„Dichten (…) ist die Sprache des utopischen Enthusiasmus, der ersten Vorwegnahme einer Topographie gelingenden Lebens in naher oder ferner Zukunft“, schreibt Volker Gallé im sehr poetischen Nachwort seines neuen Gedichtbandes „Flügelschlag des Raben“, und so kann und muss man auch seine Gedichte lesen.
Sie erschließen sich freilich nicht auf Anhieb, sind zunächst nur fassbar als Anmutungen, als grelle mythische Stimmungen zwischen Dämmerung und Morgen, in der Belebtes und Unbelebtes eine eigene Sprache entwickelt, Erinnerungen raunt, Sehnsüchte weckt, Hoffnungen zuspricht. Ungewöhnliche Wortkompositionen, die Körper, Natur und Geist zusammen zwingen, scheinbar unversöhnliche Gegensatzpaare, dazu eine Schreibweise, die jegliche Hierarchie ablehnt, nötigen zum Verharren, zum genauen Hinschauen und stehen exakt für das, worum es geht: um „die verloren geglaubte Einheit von Denken und Sein“, von Innen und Außen, Vergangenheit und Zukunft, von Schöpfung und Schöpfer, vielleicht könnte man auch sagen um bejahte Globalität.
Es sind betörend schöne Bilder, die Volker Gallé entwirft, gesättigt von Amselsang und Krötenlachen, von „greinender Newwelsunn“, „sießbittren brombeem“ und „kaschbernden“ Bächen, verwoben mit mythologischen Anspielungen, soweit die Geschichte der Menschheit reicht. Doch es geht nie um Idylle, um bloße Naturbeschreibung in dieser „sehr körperlichen, sehr persönlichen, sehr emotionalen“ Dichtung, sondern um nicht mehr und nicht weniger als das Paradies auf Erden und die Frage, was wir tun können, damit es endlich herbei kommt, und was uns daran hindert. Oder gibt es ihn nicht, diesen Gott?
Der Tod, der „Flügelschlag des Raben“ (wenn man diese Metapher so interpretieren will) ist in fast jedem der 60 Gedichte präsent, doch ist er bei aller spürbaren Bedrohlichkeit nur Teil des Lebens, Zeichen des immerwährenden Wandels und täglichen Neubeginns, und für den, der loslassen kann, weil er sich als Teil des Ganzen fühlt, auch ein Trost und eine Chance. „Die Schöpfung beginnt von ihrem Ende her“, sagt Volker Gallé. Wem es schwer fällt, sich in die Gedichte einzuspüren und sich von ihrer Fülle berühren und inspirieren zu lassen, dem hilft vielleicht das philosophische Nachwort mit dem Titel „Melancholie und Enthusiasmus“. Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer für das Recht auf den „persönlichen Blues“ und das Reden darüber, gleichzeitig aber auch ein Appell zum Wahrnehmen der „lichtvollen Seite der Welt, die das Ich über sich selbst hinausweist und die Welt belebt“.
Was Gallé hier beschreibt, ist im Grunde der alte schmerzliche Widerspruch zwischen Erdgebundenheit und Himmelsweite, die auf Versöhnung warten. Die Hoffnung darf nicht aufgegeben werden, doch es braucht viel, viel Geduld, wie unter anderem das schöne Gedicht „christophorus stier“ zeigt. Bis dahin kann man jedoch gelegentlich den Innenraum öffnen, durch die Wolkentür steigen und durch farbige Landschaften gehen.