Zu Barbe Maria Linke – Endlose Ufer. 29 Erzählungen mit Bildern von Steffen Merten

Barbe Maria Linke – Endlose Ufer. 29 Erzählungen mit Bildern von Steffen Merten


Die Berliner Autorin Barbe Maria Linke legt mit ‚Endlose Ufer‘ einen Erzählband von inhaltlich und sprachlich besonderer Qualität vor. Barbe Maria Linke, die wir eigentlich von ihren großen Romanen kennen (Moses – Ein Experiment; Wege, die wir gingen. Zwölf Frauen aus West- und Ostdeutschland geben Auskunft; Träum mich, Geliebte; Aufbruch; Wohin – Stationen – Skizzen – Bilder; Auszug. Eine Reisebeschreibung; Bertrams Spur), zeigt uns in diesem Band, dass sie das Metier der Erzählung ebenso meisterhaft beherrscht wie die Arbeit am Roman. Ihr Band ‚Endlose Ufer‘ mit 29 Erzählungen, illustriert von Steffen Merten, setzt sich mit zentralen Fragen des menschlichen Lebens auseinander. Liebe, Selbstfindung, Verstehen im Verhältnis zum Tod. Es ist der Versuch der Autorin, die Wege und Sichten zu den ‚Endlosen Ufern‘ des menschlichen Seins zu thematisieren.
Den klassischen Anforderungen an eine Erzählung folgend, ist das Personal ihrer Geschichten auf wenige ProtagonistInnen beschränkt. Ein Paar – Mann und Frau oder zwei Frauen, Mutter-Tochter etc., ProtagonistInnen, die in den einzelnen Erzählungen wechseln (mit Ausnahme der Erzählung ‚Die heilige Brücke in Prag‘, die ihre Fortsetzung in der Erzählung ‚Elsa Wille‘ erfährt, und in denen zentrale Figuren gemeinsam sind) und die in verschiedenen Formen intensiver Beziehung leben oder gelebt haben. Um sie herum kreist ein Geschehen, das ihre Beziehung und damit auch das Leben der jeweilig einzelnen Person beleuchtet beziehungsweise durch eine der Handlungsfiguren betrachten lässt.
Die übergreifende Fragestellung der Autorin ist dabei, wie das Leben eines jeden mit den für ihn wichtigsten Personen selbst das Leben nach dem Tod und den Tod selbst beeinflusst. In der Erzählung ‚Der Tod stirbt beim Lieben‘ nimmt der Tod sogar die Figur des bedeutsamen Bruders an. Im Nachlass von Elsa liest die Freundin Lena in der Erzählung ‚Elsa Wille‘, die als Thema für den Band stehen könnenden Sätze: „Das Leben ist paradox. Es lässt sich nicht auflösen, auch nicht durch den Tod.“
Und diese Erkenntnis beherrscht den Band. Gleichgültig, um welches politische Geschehen es sich handelt (NS-Zeit, Prager Frühling, 11. September, Aussiedlung aus der DDR) oder um welche privaten Störungen, es verhindert das Leben von Beziehung oder zerstört sogar das Leben der Menschen, die eine Beziehung haben wollen, doch es verhindert niemals die Bedeutung der Beziehung, die stets erhalten bleibt. Sogar nach dem Tod führt das Erkennen der Bedeutung zu einer Aufwertung oder dem Erkennen eigener Lebensbedeutung. „Das ist auch der Grund für diese Aufzeichnungen“, sagt George zu sich selbst in der Erzählung ‚Der Sohn George‘ und fährt fort: „Ich brauche ein Ventil, um mein Leben zu ordnen, das mir Fragen stellt, die der Verstand nicht beantworten kann.“ Selten gab es einen Erzählband, in dem Freundschaft, in dem Liebe zwischen Partnern, Eltern etc. so existentiell über den Tod hinaus dargestellt wurde. Endlose Ufer, denn die Vorstellung des Endes der Beziehung durch den Tod oder einen sonstigen Verlust als Ende ist eine uns falsche Vorstellung. Es gibt immer ein Weiterleben des Miteinanders, ein Erfahren des anderen in seiner Bedeutung für mich in seinem Ende, das das Miteinander weiterleben lässt. Ja, die Autorin geht noch weiter. Bereits im Mutterleib trägt für sie das Kind das Vorleben der Vergangenheit in sich. In der Erzählung ‚Der Mund ist rot, aus dem es lacht‘ heißt es in Bezug auf das Kind im Mutterleib: „Ein winziges Teilchen, das alle Merkmale der Vergangenheit in sich trägt? Das aufbewahrt, was du von den Vorfahren geahnt, gewusst und gehört hast? Auf diese Erde geworfen. Blut und Feuermale.“ Endlos ist das Ufer, es gibt keine aufgelöste Vergangenheit, auch wenn wir uns das gelegentlich gesellschaftlich wünschen.
Die Ansiedlung der Erzählungen in differenten Milieus, in unterschiedlichen Zeiten mit unterschiedlichen Personen in Bezug auf Alter und Geschlecht macht das Kreisen um die Fragestellung des ‚Endlosen Ufers‘ für den Leser immer wieder neu interessant und beleuchtet stets neu Aspekte der Fragestellung. Einige fast kafkaesk anmutende Erzählungen erklären sich dem Leser im Gesamtzusammenhang problemlos, erweitern zudem die inhaltliche Fragestellung des Bandes. Etwa die Geschichte ‚Der Stachel des Skorpions‘. Der Skorpion stirbt nach dem Absetzen seines tödlichen Stachels, doch der Skorpion lebt weiter, da das tödliche Gift im Kopf des Gestochenen wirkt.
Eine besondere Bedeutung nehmen in den Erzählungen die Malerei, der Tanz, Musik, das Tagebuch und die Literatur ein. Sie ist in vielen der Erzählungen Transfermittel der Erkenntnis zwischen den jeweiligen Partnern, sei es durch Bilder, nachgelassene Manuskripte, Bücher, Malereien, Tagebucheintragungen etc. Sie ermöglichen eine Erkenntnisebene, die offensichtlich durch das direkte Gespräch nicht oder schwieriger gegeben ist. „Und auf einmal begriff ich, was mit mir geschah. Es war die Melodie, die mich besetzt hatte, seitdem ich Mary begegnet war“, heißt es in der Erzählung ‚Der Sohn George‘. Durch die Musik erkennt George emotional die Bedeutung, die Mary auf sein Leben ausübt.
Zwar hat ‚Endlose Ufer‘ mit knapp 300 Seiten einen bemerkenswerten Umfang für einen Erzählband. Doch die Ansiedlung der Erzählungen in den verschiedenen Milieus, privaten und politischen Zusammenhägen bietet abwechslungsreiche Lesungsmöglichkeiten, zumal der Aufbau der einzelnen Erzählungen different ist. Die Lesefreude erhöht sich zudem dadurch, dass die Autorin immer wieder Naturbilder einstreut, die den inhaltlichen Zusammenhang zusätzlich verdeutlichen. Zu nennen sind hier immer wieder das Meer, die See und vor allem der Nebel, der zu Beginn der Erzählungen zumeist nur eine undeutliche Sichtweise auf die Entwicklung der Handlung gewährt. Gelegentlich finden wir auch eine bildlich-emotionale Natursequenz eher am Ende einer Erzählung, die das Geschehen zusammenfasst: „Laub unter ihren Füßen. Ein Rabe in einer Birkenspitze, der laut krächzt.“ (aus der Erzählung ‚Frühstück in Franzensbad‘)
Die Sprache, durchaus karg und schlicht, ist aber sehr präzise gehalten. Der in allen Erzählungen vorliegende Dialog kreist stets um den jeweils zentralen Gedanken, lässt keine ablenkenden Linien zu, so, wie es eine gute Erzählung verlangt.
Insgesamt ein wunderbarer Erzählband, der auch Lesungen mit sehr unterschiedlichen Gruppen ermöglichen wird. Die Erzählungen selbst und das Gespräch über die Erzählungen werden beim Leser/Hörer das Bewusstsein über die lebenslange Bedeutung einer wichtigen Beziehung auch über den Tod hinaus auch im eigenen Leben vielleicht sogar schmerzhaft verdeutlichen. Die Erzählungen werden durch insgesamt sieben wunderbare Bilder unterteilt, die das Erzählte noch einmal in abstrakter Weise vertiefen.