Zwischen Selbstbestimmung und Selbstbehauptung. Eine Einladung zu einer „gewichtigen“ Auseinandersetzung mit sich selbst




Zwischen Selbstbestimmung und Selbstbehauptung.
Eine Einladung zu einer „gewichtigen“ Auseinandersetzung mit sich selbst
 


 

Den Anfang bildete eine einfache Serviette. Auf ihr stehen in einer Spirale nach innen gewunden die Worte: Zweierlei muss ich für den Rest meines Lebens im Auge behalten: mein Gewicht und meinen Rassismus. Es ist ein Multiple, das der New Yorker Künstler Cary S. Leibowitz geschaffen hat. Genau dieses Multiple wurde jetzt zum Ausgangspunkt eines schulischen Reflexionsprozesses, der den Bildungsprozess, wie er in Deutschland propagiert und praktiziert wird, auf den Kopf stellt. Wie das geschieht, zeigt der von Leo van Treeck herausgegebene Sammelband Gewichtsprobleme? SELBSTaussagen zum RASSISMUS, der im November 2008 im Geest-Verlag in Vechta erschienen ist. Er versammelt Texte, die Jugendliche an der Erich Kästner-Gesamtschule in Essen unter der Anleitung ihres Philosophielehrers Peter Gutsche geschrieben haben und die sich mit dieser Serviette und ihrem Anliegen auseinandersetzen.

Nicht mehr der „Lernstoff“ steht in diesem Buch im Vordergrund, sondern der Mensch, das Ich. Und ehe man sich versieht, ist man als Leser mit in diesen Reflexionsprozess hineingenommen. Man nimmt teil. Man hat Anteil an ihm. Schon beim Betrachten des Multiples geschieht es, setzt sich der eigene Reflexionsprozess in Bewegung: Wer bin ich? Woher komme ich? Wohin gehe ich? Was bewegt mich? Was bestimmt mich? Was will ich? Was will ich definitiv nicht? Es geht in diesem Buch um die eigene Standortbestimmung, um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Rassismus und, davon ausgehend, mit den Vorurteilen, mit denen man im eigenen Umfeld konfrontiert wird. Also um Schritte der Selbstbestimmung und der Selbstbehauptung, die notwendig sind, um eine lebenswerte gemeinsame Zukunft zu gewinnen. Gerade die Zusammenschau der verschiedenen Texte macht das Buch interessant. Die vielen Perspektiven, aus denen heraus die Anfragen der Jugendlichen nach dem eigenen Rassismus den Leser erreichen! Woher sie auch immer stammen! Wo sie auch immer groß geworden sind! Welche schulischen und nichtschulischen Lebenswege sie auch immer bisher gegangen sind! Sie fragen nach Grenzen, nach (Vor-) Urteilen, nach dem Ich, dem Verhältnis zu sich und zu den Mitmenschen, die Dimensionen unter der Gürtellinie mit eingeschlossen.

Bildung ist keine Stoffsammlung, aus der sich jeder das für ihn Passende heraussucht. Sie meint den Menschen persönlich. Sie meint uns im Umgang mit uns selbst und unseren Mitmenschen. Eben das, was eine demokratische Gesellschaft auszeichnet und zusammenführt! Ganz in dem Sinne, wie es schon der bekannte Bielefelder Bildungsforscher Hartmut von Hentig etwa in seinem Essay Was ist Bildung? formuliert hat. Kein Wunder also, dass gerade die Weiße Rose Stiftung aus München, die ja dem Vermächtnis der Geschwister Scholl verpflichtet ist, das Projekt unterstützt.

Es besteht kein Zweifel: Die Jugendlichen, die sich in diesem Sammelband äußern, haben sich auf den Weg gemacht. Kritisch und selbstkritisch. So beginnt Bildung. So beginnt wirkliches Lernen. Und deshalb stellt dieses „gewichtige“ Buch den Bildungsprozess nun doch nicht auf den Kopf. Es stellt ihn vielmehr auf die Füße. Weil er nämlich beim Menschen beginnt. Bei uns Lesern. Auf diese Weise macht er ein wenig von dem sichtbar, was eine Bildungsinstitution zu leisten hat und was sie zu leisten imstande ist, wenn sie ihren Bildungsauftrag tatsächlich ernstnimmt. Ein Buch, dem man im Interesse unser aller Bildung viele Leser wünscht!

 

Leo van Treeck (Hg.)

Peter Gutsche (Idee und Durchführung)

Gewichtsprobleme. SELBSTaussagen zum RASSISMUS

Geest-Verlag 2008

ISBN 978-3-86685-156-6

302 Seiten

12,00 Euro

 

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