Verhängnisse
Heidelore und Isa sind Schwestern. Während
die Erstgeborene schon immer verwöhnt wurde,
blieb für die Jüngere nicht viel übrig. Nicht
mal ein richtiger Vorname, wie sie selbst
beklagt, nur drei Buchstaben. Inzwischen
sind beide nicht mehr jung. Heidelore hat es
zu einer Drittwohnung in Paris gebracht, mit
Blick auf Sacre-Coeur. Dort erwartet sie ihre
Schwester, um ihren Wohlstand vorführen zu
können. Isa nämlich wohnt in „Prenzelberg“,
arbeitet in einem Hinterhof-Antiquariat und
wird es in Heidelores Augen nie zu etwas
bringen. Man ahnt es schon: Dieses Treffen
steht unter keinem guten Stern.
In den Erzählungen von Jutta Dornheim geht
es um Verhältnisse und Verhängnisse, um
schicksalhafte Begegnungen und persönliche
Verstrickungen, die selten gut enden. Oft
liegen die Kränkungen schon lange zurück,
wie in der Geschichte „Bis auf die Haut“: Vor
30 Jahren war Justyna mit Franz aus der DDR
nach Westberlin geflüchtet. Sie hatten nur,
was sie am Leib trugen. Nicht viel mehr als
eine durchsichtige Nylonbluse, einen blauen
BH und eine weiße Handtasche. Wie also an
Geld kommen? Nein, es passiert nicht, was
man erwartet. An sich passiert fast gar nichts,
jedenfalls nichts, was Justynas Albträume erklären
würde. Dennoch hat dieser Tag Narben
hinterlassen, die einen Neuanfang mit Franz
scheitern lassen.
In Jutta Dornheims Geschichten schleicht das
Unglück ganz harmlos zur Hintertür herein.
Martha hat ihren 70. Geburtstag gefeiert.
Nachdem alle Gäste gegangen sind, entdeckt
sie einen Fremden in ihrem Wohnzimmer.
Er erinnert sie an ihren verstorbenen Mann,
und nach und nach kommen Dinge heraus,
die längst verdrängt waren. Angenehm
unaufgeregt und in klarer, sachlicher Sprache
erzählt Dornheim von ihren traurigen
Heldinnen. Sie sind oft schweigsam, geben
ihre Lebensgeschichten nur zögerlich preis.
Und vieles bleibt unausgesprochen. So wie
Heidelore und Ida am Ende nicht mehr als
ein paar Worte miteinander wechseln. Mehr
ist auch gar nicht nötig.
Marion Gay
Jutta Dornheim: Steine können rückwärts
fliegen. Erzählungen. 170 Seiten. Geest. Vechta 2009