Ein Reisegedichtzyklus von Wendelin Mangold anlässlich einer Fahrt nach Detmold

Detmold, hin und zurück, am 31/1/12 

Reisegedichtzyklus

von Wendelin Mangold

 

SENSENMANN

 

Skelett im Klassenzimmer, damals noch echtes Gebein, nicht wie heuer aus Plastik: Wem gehörte es, einem Sträfling, einem Gulag-Häftling, einem Kriegsgefangenen, einem Verhungerten, einem Erfrorenen? Namenlos. Ohne Herz und ohne Seele. Leerer Brustkorb. Kein Problem damals für uns Schüler. Da wir noch nicht wussten, dass auf Stalins Geheiß Millionen als Klassenfeinde in den Tod geschickt wurden. Bloß  ein Skelett für das Fach Biologie, das bei manchem Schüler, eher Schülerin ein mulmiges Gefühl hervorrufen konnte. So manche Rowdies aber machten sich lustig an ihm und gaben mächtig damit an, war kein Lehrer gerade in der Nähe. Sie klapperten mit seinen Knochen, bewegten seine Kiefern, ließen derbe Sprüche los, wie ‚Ich bin der Sensenmann! Bald seid ihr alle dran!‘

 

 

KOT

 

Die Zeit ist unersättlich und frisst sich selbst auf. Was sie vorne reinsteckt, ist Gegenwart, und was hinten dann rauskommt, ist Vergangenheit. Später wühlen die Historiker in dem Scheißhaufen Vergangenheit rum, runzeln die Stirn, rekonstruieren und interpretieren, was nie so stimmte und nie so in Wirklichkeit war. Sie riechen daran, und finden sie was, nehmen sie es in den Mund und prüfen es auf den Zahn, betrachten es durch das Vergrößerungsglas.

 

WINTERZEICHEN

 

Ist der Winter schon wirklich vorbei, ohne Schnee und mit grünen Wiesen, allein, dass es hier oben zwischen Bielefeld und Detmold weiß birkelt. Die vergoldeten Kirchturmspitzen stochern im blauen Himmel herum und blitzen. Die Windgeneratormühlen mahlen die Luft zu elektrischem Strom.

 

ZEITFÜLLHORN

 

Zu meinen jungen Jahren hatte ich so viel Zeit, dass ich nicht wusste, wohin damit. Ich warf sie haufenweise heraus, vergeudete sie. Sie war mir nie zu schade. An den Tod konnte und wollte ich nicht denken. Beerdigungen mied ich und lief den Trauerzügen nicht nach, führten sie durch Straßen Russlands mit dem Blechorchester als Geleit. Nun ist es nicht mehr so weit!