Adventspredigt von Gerhard Traber im Mainzer Dom am 3. Dezember 2017 zum 1. Advent

Adventspredigt im Mainzer Dom
am 3. Dezember 2017 zum 1. Advent

Evangelium: Vom Kommen des Menschensohnes und Mahnungen im Hinblick auf das Ende: Markus 13,24 -37 Seid wachsam

In diesem Textabschnitt des Evangelisten Markus wird das Kommen des Menschensohnes angekündigt, verbunden mit der Mahnung, dass er die Menschen nach dem was sie in ihrem Leben taten oder auch nicht taten beurteilen wird.

Es ist für mich, als religiöser Laie, eine Schlüsselstelle im Hinblick auf eine deutliche Bewusstmachung unserer individuellen Endlichkeit, auf den Tod, dessen Kommen niemand vorhersagen kann.  Und zugleich beinhaltet diese Textstelle einen Appell, dass wir mit der Dauer des eigenen Lebens verantwortlich und bewusst umgehen sollten.

So heißt es am Ende dieser Bibeltextstelle: „Was ich aber euch sage, das sage ich allen: Seid wachsam!“

Was bedeutet dies nun für mich persönlich, für uns Alle?!

In unserer Gesellschaft wird privater Reichtum gefördert und zugleich öffentliche wie private Armut in Kauf genommen. Wieder verstecken sich viele Menschen in unserer so leistungsorientierten Demokratie zunehmend hinter Gesetzen und Bestimmungen, und legen damit ihre soziale Verantwortung ab. Vergessen dabei oft, zu was dieses verdrängende und ignorierende Verhalten konkret bei von Armut und Ausgrenzung betroffenen Menschen führt.

Pierre Abbé, französischer Theologie, der die Emmaus-Bewegung gründete,  sagte einmal: „Habe Respekt vor Gesetzen, wenn diese sich respektvoll in der Anwendung für die Menschen zeigen.“ Gerade Gesetze im Kontext der Betreuung von sozial benachteiligten Menschen, welcher Nationalität auch immer, tun dies nicht.
Mahatma Gandhi sagte vor über einem halben Jahrhundert: „Armut ist die schlimmste Form von Gewalt.“ Daran hat sich nichts geändert.

Wir alle besitzen den Reichtum in einem wohlhabenden Land leben zu dürfen. In Sicherheit, ohne Krieg, ohne Hungersnot, häufig in materiellem Reichtum. Kritisch muss in diesem reichen Land die Festlegung des sogenannten Existenzminimums, das sogenannte Arbeitslosengeld 2, oder Sozialgeld beurteilt werden. Diese  materiellen Transferleistungen sind zu niedrig, um an den Privilegien, um überhaupt emanzipiert an dieser Gesellschaft teilhaben zu können. Ein finanzielles Ernährungsbudget von 2,92 Euro für Frühstück, Mittagessen und Abendbrot, für ein 5-jähriges Kind, sind inhuman, da sie keine Grundlage für ein gesundes Essen darstellen. Sind wir wachsam solchen Ungerechtigkeiten gegenüber.

Wir besitzen den Reichtum  eines sicheren Lebens in Europa. Es ist wohl eine menschliche Eigenschaft, oder ist es speziell eine Verhaltensweise von Menschen mit Besitz, diesen Besitz schützen zu wollen, sich abzugrenzen, Grenzen zu schaffen, dass niemand diesen Reichtum bedroht, den Reichtum teilen zu müssen. Das geschieht in Deutschland durch eine unzureichende finanzielle Unterstützung sozial benachteiligter Menschen, und es geschieht in ganz Europa. Wir bauen imaginäre aber auch reale Grenzen auf. Durch Diskriminierung, durch unsoziale, ungerechte gesetzliche Bestimmungen, durch Zäune, durch fehlende Hilfe zum Beispiel im Mittelmeer, durch Abschiebeabkommen. Wir verbahnen die Not vieler Menschen. Ausländischen Mitbürgern vermitteln wir immer deutlicher, dass sie doch in ihrer Heimat bleiben mögen. Wir haben doch schon genug Hilfe geleistet. Gibt es ein genug an Hilfe für Hilfebedürftige, gibt es für Humanität eine Grenze, eine Obergrenze?

Wir tragen Alle eine Mitverantwortung für das Leben und das Sterben unserer Mitmenschen, egal wo auf dieser Erde.

Ich habe das Leid, die Hoffnungslosigkeit und das stille Sterben vieler Menschen, in Deutschland, in Mainz aber insbesondere im Mittelmeer und vielen Flüchtlingslagern, erfahren müssen. Eine Not, ein Tod der immer stärker aus dem öffentlichen Bewusstsein verdrängt wird.

Armut darf nicht gegen Armut ausgespielt werden und Rassismus darf nie mehr toleriert werden.

Das Mittelmeer ist die gefährlichste Grenze auf der Erde. Über 30.000 Menschen sind in den letzten 4 Jahren dort ertrunken.

Aber bleiben wir in unserer Heimat, bleiben wir in Deutschland. Vergleicht man die Lebenserwartung des reichsten Viertels in unserer Gesellschaft mit dem ärmsten, so sterben arme Frauen 8 Jahren und arme Männern 11 Jahre früher als Menschen die wohlhabend sind.


Martin Buber, österreich-israelisch jüdischer Religionsphilosoph und Verfechter eines religiösen Sozialismus sagt:

„Es kommt einzig darauf an,  bei sich zu beginnen, und in diesem Augenblick habe ich mich um nichts anderes in der Welt als um diesen Beginn zu kümmern.“

Dem folgend, sollte jeder bei dem Thema Wachsamkeit bei sich selbst anfangen. So will ich dies auch tun.
Deshalb möchte ich Ihnen von meinem persönlichen zentralen „Sei Wachsam!“- Erlebnis in diesem Jahr berichten:

Im Juli dieses Jahres habe ich im Rahmen eines medizinischen Hilfseinsatzes in Mossul, im Nordirak als Arzt gearbeitet.

Nachdem mein Kollege Stefan, ein toller engagierter junger Arzt aus Berlin, der schon seit Wochen schwerverletzte Zivilisten und Soldaten in unserem kleinen Behandlungszentrum in der Nähe der Frontlinie in Altmossul behandelt hat, mir das Anlegen der schusssicheren Keramikwesten gezeigt hatte, dann einen passenden Schutzhelm herausgesucht und mit mir die Funktionsweise der Gasmaske ausprobiert hatte, werden wir zu einem Notfall gerufen. Zwei junge Männer sind in eine Sprengfalle geraten. Der eine von beiden ist schwerverletzt. Das linke Bein ist zerfetzt,  ein Teil der Lunge ist wohl geplatzt, wir Mediziner sprechen von einem Pneumothorax, zudem hat er massive Wunden am gesamten Oberkörper, am Kopf und den Händen und Füßen. Er wird mit einem Pick-up Lastwagen gebracht und schnell auf die Untersuchungsliege gehoben. Stefan, ein amerikanischer Arztkollege, irakische Rettungssanitäter und ich untersuchen den Patienten und fangen sofort mit den Hilfsmaßnahmen an. Ich stehe direkt an der Untersuchungsliege und bemerke, dass dieser schwerverletzte junge irakische Mann mit seiner Hand seitlich meine Hose anpackt.

Er hat sichtlich Schmerzen, er sucht nach Halt. Seine Hände sind blutverschmiert. Ich bemerke seine Angst, seine Panik und sein Greifen und Zupacken an meiner Hose. Zeitgleich registriere ich in diesem Moment, meine Gedanken. „Ich habe nur eine strapazierfähige Hose, ich bin erst ein Tag am Einsatzort, wenn jetzt schon meine Hose blutverschmiert ist und ich dieses Blut nicht mehr entfernen kann, laufe ich die ganzen nächsten Wochen mit dieser blutverschmierten Hose herum.“  Ich streife seine Hand von meiner Hose und arbeite weiter. Er packt in seinem Kampf gegen den Tod, und für das Leben meine Hand. Wieder beginnt es in mir zu arbeiten. „Ich habe noch keine Schutzhandschuhe an, die Hand dieses Menschen ist immer noch blutverschmiert. Könnte ich mich, mit irgendeiner Infektionskrankheit, mit was auch immer, infizieren. Ich muss doch Handeln, etwas machen.“ Wieder entziehe ich mich diesem unmittelbaren Kontakt, dieser Nähe, diesem Versuch eines im Todeskampf sich befindenden Menschen, Halt zu finden. Nähe und Zuwendung, durch einen anderen Menschen spüren zu dürfen.

Wir funktionieren als Team. Sofort wird eine Braunüle gelegt, also einen Blutzugang zu einer Vene, daraufhin spritze ich rasch verschiedene Notfallmedikamente. Eine Blutstillung der großen Wunden wird von den irakischen Sanitätern durchgeführt, Stefan intubiert den Patienten, d.h. es wird ein Beatmungsschlauch in die Lunge durch den Mund gelegt. Der amerikanische Kollege legt eine Thoraxdrainage, damit sich die kollabierte Lunge wieder entfalten kann. Der Mann, dieser schwerverletzte Mensch wird schließlich mit einem Krankenwagen ins nächstgelegene Krankenhaus gebracht. Er lebt! Er lebt noch!

Wir sind alle angespannt und voller Emotionen. Ich setze mich allein auf unser Feldbett in unserer halbzerstörten Unterkunft und gehe gedanklich das Geschehene nochmals vor meinem inneren Auge durch. Wie habe ich reagiert, habe ich mein Fachwissen richtig eingesetzt habe ich schnell gehandelt usw.  Und was war da noch mit der Hand des Patienten, als er versucht hatte Halt zu finden, Berühren zu können und berührt zu werden in dieser Situation zwischen Leben und Tod.

Sei wachsam. Ich war es in dieser Situation nicht, muss ich erkennen. Mir war die Sauberkeit meiner Hose wichtiger, als Nähe zuzulassen. Mir war die irrationale Angst vor Berührung einer blutverschmierten Hand wichtiger als dieses direkte Halt geben, von Mensch zu Mensch.

Ich war in diesem so wichtigen und entscheidenden Moment nicht sensibel, nicht empathisch, nicht wirklich da. Ein Mensch sucht in seinem Todeskampf meine Nähe und ich entziehe mich dieser Nähe. Das war falsch, es war arrogant, ignorant von mir. Ich, der ich doch so viele Notsituationen, Situationen in denen Menschen zwischen Tod und Leben schweben schon erlebt habe, der glaubt sensibel und einfühlsam zu sein, hat falsch gehandelt, hat einen Menschen im Stich gelassen.
Sei wachsam Gerhard!!!!

Es geht nicht um eine selbstzerstörerische Kritik, es geht um tabulose Kritik, es geht um stetige Wachsamkeit dem eigenen Leben und dem fremden Leben gegenüber. Ich war in dieser Situation nicht wachsam.

Ich, wir alle dürfen diese Sensibilität der eigenen Wachsamkeit, der Wachsamkeit unserem Verhalten gegenüber, niemals verlieren, nicht vergessen. Und wir müssen uns ihr offen und ehrlich stellen und als Ergebnis dieses Reflexions-, dieses Denkprozesses unsere Konsequenzen und Rückschlüsse ziehen. Für mich bedeutete dies während meiner Zeit im Irak, Berührung, Kontakt nie mehr auszuschlagen. Begegnung auch in einer solchen Notfallsituation zuzulassen, und wachsam zu sein. Wachsam für die Not und das Bedürfnis des Anderen und Wachsam gegenüber meinen irrationalen Ängsten zu sein. Und zugleich die Demut zu leben, wie schmal der Grat zwischen falschem und richtigem Handeln oft ist.


Der Feind ist schon längst in uns selbst, wenn wir die Menschen vergessen, wenn das Schicksal von sozialer Benachteiligung betroffener Menschen, von Menschen die vor Armut und Terror flüchten, zu einer Routinemeldung der Nachrichtenagenturen werden.

Wir dürfen nicht vergessen, wir müssen hinschauen und wir müssen die politisch Verantwortlichen, und uns selbst mit den Konsequenzen dieses unwachsamen Handelns konfrontieren. Das dazu führt,  dass Menschen in unserer Heimat wie auch an den europäischen Grenzen und auf der gesamten Erde, leiden und sterben. Unser Schweigen, unsere Apathie, unser Ignorieren sind mitverantwortlich am Tod vieler davon betroffener Menschen.

Dante Alighieri ein Italienischer Dichter und Philosoph im 13. Jahrhundert sagte zu dieser Verhaltensweise:  „Wer eine Not erblickt und wartet, bis er um Hilfe gebeten wird, ist ebenso schlecht, als ob er sie verweigert hätte.“


Dieses Vergessen und Ignorieren hat mittlerweile eine Form von struktureller Gewalt angenommen, die scheinbar zu einem politischen Handlungsinstrument geworden ist. Zunehmend wird Wachsamkeit bestraft. Die Kriminalisierung von friedlichen Demonstranten, wie während des G20-Gipfels in Hamburg geschehen, ist genauso zu verurteilen, wie die Kriminalisierung von Hilfsorganisationen, wie dies derzeit im Mittelmeer praktiziert wird. Die gewalttätigen Übergriffe von staatlichen Organen werden dabei oft verharmlost und ignoriert. Genauso ist natürlich auch die Gewalt gegenüber Repräsentanten dieses Landes, gegenüber der Polizei, sowie Hilfskräften wie Feuerwehr und Rettungsdienst zu verurteilen.

Stéphan Hessel, ehemaliges Résistance – Mitglied, der das Konzentrationslager Buchenwald der Nazis überlebte, und Mitverfasser  der Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen war, hat im Jahre 2010 eine bemerkenswerte Streitschrift verfasst, mit dem Titel: „Empört Euch!“. In dieser Streitschrift, kritisiert Hessel die, wenn man so möchte, fehlende „Wachsamkeit“ gegenüber einer stark leistungsorientierten europäischen und damit auch deutschen Politik. Dies tut er, indem er die gezielte Unterdrückung, den Verlust an Menschenrechten beanstandet und die Macht des Finanzkapitalismus anprangert. Er schließt mit den Worten: „Neues schaffen heißt Widerstand leisten. Widerstand leisten heißt Neues schaffen.“

Sind wir wachsam, leisten wir alle der Fremdenfeindlichkeit, dem Rassismus, auch dem Sozialrassismus und dem Rechtspopulismus gegenüber  Widerstand. Leisten wir einer Verharmlosung der Aussagen, Inhalte und Meinungen der Mitläufer und Verantwortlichen Widerstand und leisten wir einer ungerechten, unsozialen deutschen und europäischen Politik Widerstand. Eine Politik, die Banken rettet, aber Menschen, diffamiert, abschiebt, ausgrenzt und  sterben lässt.

Dies bedeutet auch, dass die Institution Kirche, die evangelische und katholische Kirche, die Vertreter und Repräsentanten dieser Kirchen wachsam sein müssen. Sich selbstkritisch mit Machtverhältnissen, Unrechtsstrukturen und Vernachlässigungsmechanismen in dieser unserer Gesellschaft zu konfrontieren. Und sich entschieden, eindeutig und konsequent gegen soziale Ungerechtigkeit und für die Verwirklichung von Menschenrechten einzusetzen.

Wir dürfen nicht Müde werden wachsam gegenüber diesen Entwicklungen zu sein, und Ungerechtigkeit beim Namen zu nennen und zu handeln.


Im Sinne Albert Camus: Nicht die Revolution ist entscheidend, sondern die permanente, andauernde Revolte. Bleiben wir beharrlich und konsequent in unserer permanenten Revolte gegen soziale Ungerechtigkeit und für die weltweite Einhaltung der Menschenrechte.

Der dänische Familientherapeut Jesper Juul hat einen interessanten Begriff in die deutsche Sprache „eingeführt“, den Begriff der Gleichwürdigkeit. Diesen Begriff gibt es im Deutschen nicht, wohl aber in anderen Sprachen. Für mich drückt dieser Begriff eine fundamentale menschliche Beziehungs- und Kommunikationsebene aus. Menschen  in Würde zu begegnen  und ihnen damit ein Stück Würde, die bei armen Menschen oft verloren gegangen ist, wieder zurückzugeben.

Seien wir alle wachsam, diesen Respekt und diese Würde in der Begegnung zu leben. Und fangen wir damit sofort bei uns selbst an, denn unser Leben ist endlich.



1. Advent 2017
3. Dezember

Gerhard Trabert