Thomas Bartsch mit Rezension zu Sigune Schnabels neuem Band 'Auf Zimmer drei liegt die Sehnsucht'
„Auf Zimmer drei liegt die Sehnsucht“ – so lautet der Titel des neuen Gedichtbandes der Lyrikerin Sigune Schnabel. Die Sehnsucht erscheint als Person, die eben nicht nur unter einer Stimmung leidet, sondern mit ihr eine Einheit bildet, durch sie zu identifizieren ist:
„Auf Zimmer drei liegt die Sehnsucht
kalkweiß.
Nachmittags geht sie über den Gang,
drei Schritte hin, drei zurück.
Zwischen den Infusionen trägt sie
einen grünen Mantel.
Morgen bringe ich ihr
meinen letzten Schal.“
Die Autorin nimmt sich dieser „Patientin“, dieses nach außen verlagerten und personifizierten Ich-Zustands an, diagnostiziert mit analytischer Genauigkeit Ursachen, Vielschichtigkeit und Ausdrucksformen des Leidens. Sie verwendet jedoch kein medizinisches oder psychologisches Vokabular, sondern gestaltet ihre Betrachtungen wortakrobatisch, lyrisch-subtil, bildreich und melodisch. So entstanden wunderbare Gedichte, die auf ein reales oder fiktives Du ausgerichtet sind oder teils filigran, teils schonungslos expressiv den Binnenraum ihrer Selbstspiegelung erschließen.
Ihre einzigartige, unverwechselbare Sprache lebt von einer geradezu synästhetischen Metaphorik, die zum Teil nur scheinbar leichtfüßig zur assoziierenden Teilhabe einlädt.
Im Gegenteil: Eigenschaften erhalten die Substanz und Bedeutung des Wesenhaften, Zeiträume werden zu Personen; innerseelische Befindlichkeit wird Gegenständliches, Natur,
Interaktion – und umgekehrt. Hinzu kommen gelegentliche Sprünge und Brüche zwischen Versen und Strophen, deren Gesamtzusammenhang erst dann erkennbar und emotional-sinnlich zugänglich wird, wenn die gelesenen Worte nicht zur ästhetisierenden Beschwingtheit verführen, sondern als Hinweise verstanden werden, die in die Tiefendimension leiten.
Dort, wo „Traurigkeit Haut verfärbt“, „im Dunst der Straßen“, ist die Grundstimmung melancholisch, dunkel, geprägt von Verletzungen und zaghaften Versuchen der Neuorganisation aus Fragmenten des Gebliebenen. Hier, im Schatten des Rückzugs, des Alleinseins und der ungelösten Ambivalenz zwischen verzehrenden Wünschen nach Nähe und der erlittenen oder aus Erfahrung vorweggenommenen Enttäuschung entfaltet sich der Zauber der Brüchigkeit. Der Zwiespalt „Sehnsucht“ wird zur Matrix einer wortmächtigen, durchaus scharfsinnigen und treffsicheren Kreativität, deren Kraft mal nahezu explosiv anmutet, an anderen Stellen durch eine fragile Zartheit bezaubert. Die Sehnsucht hat bzw. schafft sich ein Gegenüber, bei dem offenbleibt, ob es als äußere Realperson oder als innere Repräsentanz oder als Projektion zurückliegender Erfahrungen oder in einer Art Mischform von alledem in Erscheinung tritt. Wer sich sprachlich und emotional einlässt, wird hineingezogen in ein spannungs- und konfliktreiches Beziehungslabyrinth – mit dem paradoxen Erleben, sich in der Thematik existenziellen Geworfenseins durch die äußerst kunstvolle Magie von Sprache und Melodie geborgen zu fühlen.
Das lyrisch gefasste Motiv der Nähe-Distanz-Problematik in der Mutterbeziehung wie auch in der Partnerschaft findet bei bleibender Bipolarität eine gewisse Befriedung und Integration in den Worten „Schweigen“ und „Schnee“, die sowohl als Einsamkeit und Kälte als auch als innere Sammlung und Geistesgegenwart gedeutet werden können.
Die Sehnsucht erfährt durch die Einbettung in den Kontext des Beziehungsgeschehens eine spezifische Bedeutung, die sich einerseits vom Hauptmotiv des symbiotisch-schmerzlichen Naturverbundenheitserlebens der Romantik löst bzw. abgrenzt, andererseits den Sogcharakter des Unerreichbaren, Unerfüllbaren und der Leidenschaft mit ihr gemein hat.
Alle inhaltlichen Aspekte der um die Sehnsucht kreisenden Gedichte von Sigune Schnabel werden durchdrungen von einer Sprachkunst, die trotz ihrer Anklänge an Rilke und Celan in ihrer Höhe, Tiefe und Vielfalt ganz und gar für sich steht.
„Niemandes Kind“ hat ganz offenkundig Heimat in der Sprache gefunden:
„Ich lasse nicht das Lesen bleiben
in der Zwickmühle,
in der Worte scheuern.
Das Feuer in mir
kommt aus langen Sommern.
Rot leuchtet der Tag
wie die Möglichkeiten
in meinem Mund.“
Wenn auch die Sehnsucht bleiben mag: Hier bedeutet sie (auch) Quelle, Reichtum,
Fülle – und (Wort-) Gemeinschaft mit Leserinnen und Lesern, die verstehen und vielleicht sich zugehörig fühlen. Danke für dieses Buch!
Thomas Bartsch, Mai 2021