12. Mai 2016 - aktueller Autor - Michael Fischer
Michael Fischer, geb.1944 in Oberschlesien, verbrachte nach der kriegsbedingten Flucht seine Kindheit in Osterode/Harz und seine Jugendzeit in Wolfsburg, wo er auch das Abitur machte. Er studierte Pädagogik mit den Fächern Deutsch und Sozialkunde und wurde Realschullehrer sowie dann auch Lehrerausbilder. Er lebt mit seiner Frau, mit der er zwei Kinder hat, in Cloppenburg.
Veröffentlichungen im Geest-Verlag
Hier eine Geschichte aus Finale:
In rabenschwarzer Nacht
Lachend verabschiedete sich Ingeborg Breuer von ihrer Freundin Hildegard. Ach, was hatten sie für einen Spaß gehabt, was sich nicht alles zu erzählen gewusst! Insbesondere die geschilderten Kapriolen von Hildegards Freund hatten immer wieder zu Lachsalven geführt. Männer sind doch wie Kinder! Bei Kaffee und Kuchen, später beim Abendbrot und noch später beim Wein, an dem Ingeborg, die noch fahren musste, freilich nur genippt hatte, war die Zeit wie im Flug vergangen. Nun war es bereits dunkel.
„Oh je, schon nach Mitternacht, jetzt muss ich aber!“, riss Ingeborg sich von der Freundin los.
Die beiden jungen Frauen umarmten sich und versicherten sich gegenseitig, dass es ein wunderschöner Tag gewesen sei. Inge stieg in ihren alten VW Golf, der beim dritten Startversuch endlich ansprang, und machte sich auf den Weg in die vierzehn Kilometer entfernte Kleinstadt, in der sie lebte – aber nicht ohne die Ermahnung „Fahr vorsichtig!“ von Hildegard erhalten zu haben, eine Ermahnung, die ja eigentlich sonst immer die Mütter aussprachen. Dabei war so etwas völlig überflüssig, war Inge doch eine bekanntermaßen gute Fahrerin.
Na gut, der Golf war mit seinen acht Jahren schon betagt, zudem nicht sonderlich stark motorisiert, lief jedoch, wenn er erst mal gestartet war, noch wie ein Uhrwerk – fand jedenfalls Ingeborg. Auch sonst funktionierte alles noch, wie es sollte, die Bremsen verzögerten das Tempo zuverlässig und die Scheinwerfer spendeten auch in dieser Nacht ausreichend Licht. Zudem war ihr der Weg wohlbekannt und nicht minder ihrem treuen „Goli“, wie sie ihren Wagen liebevoll nannte. Sie wehrte immer lachend alle Vorschläge, sich doch endlich einmal einen neuen Wagen zuzulegen, mit den unschlagbaren Argumenten ab: „Wieso sollte ich das denn machen? Goli läuft doch wie geschmiert und kennt alle meine Wege, der findet die praktisch von selbst!“
Das tat er auch jetzt. Über den Krähenberg ging es die Hangseite hinab, unten in die lang gezogene Rechtskurve, an deren Ende der Bleckheimer Forst begann, der sich links und rechts der Straße erstreckte, ein ausgedehntes Waldgebiet, durch das man besser nicht zu schnell fahren sollte, geschahen hier doch immer wieder Wildunfälle, neulich erst wieder einer mit tödlichem Ausgang für Mensch und Tier.
Vorsichtshalber drosselte Ingeborg die Geschwindigkeit, obgleich sie eigentlich eilig nach Hause strebte. Sicher war sicher. Zudem war sie offensichtlich hier heute Abend allein unterwegs; weder überholte sie ein Fahrzeug noch kam ihr eines entgegen. In der ADAC-Motorwelt hatte etwas von maximal 80 km/h in Wildwechselgebieten gestanden – sie blieb mit 70 km/h sogar noch ein Stück darunter. Zum Trost und zur Unterhaltung schaltete sie das Autoradio ein, das machte die Sache erträglicher, auch wenn nur Tralala-Schlager zu hören waren.
Etwa vier Kilometer führte die nahezu schnurgerade Straße durch das Waldgebiet. Als sie ziemlich genau in dessen Mitte angelangt war, merkte Ingeborg, deren Gedanken mit einem Schlagertext ein wenig mitgeträumt hatten, plötzlich auf. Vor ihr war irgendetwas anders als sonst. Sofort konzentrierte sie all ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße. Sie blendete kurz die Schweinwerfer auf. Lag da nicht etwas auf der Straße?
Instinktiv hatte sie das Tempo noch weiter verringert, befand sich aber schon unmittelbar vor der verdächtigen Stelle. Offenbar ein Fahrrad, das da auf der rechten Fahrbahnhälfte lag, also mitten auf ihrer Fahrspur. Und da, halb im Gras, halb auf der Straße … Das konnte doch nur ein Mensch sein! Während sie noch erschrocken den Kopf schüttelte, zog sie den Wagen auf die linke Fahrspur, um das, was wie ein Unfall aussah, herum und scherte dann wieder nach rechts ein. Danach stoppte sie den Wagen erst einmal.
Sie brauchte jetzt etwas Zeit zum Überlegen. Ihre Gedanken jagten sich: ‚Du musst helfen! Aber ich weiß doch gar nicht wie! Auf jeden Fall muss ich nachsehen! Aber ich bin hier ganz allein. Und ich weiß doch gar nicht, was da eigentlich los ist. Und wenn da was nicht stimmt? Blödsinn, wer sollte mir denn in dunkler Nacht an einsamer Stelle einen Streich spielen, und weshalb? – Eben, an einsamer Stelle! – Also, jetzt hör auf, nachsehen musst du wenigstens! Wahrscheinlich leidet da ein Mensch und du bist die Einzige weit und breit, die ihm irgendwie helfen kann. Jetzt gib dir einen Ruck und sieh nach! Du kannst nicht einfach so tun als sei da nichts!’
Das gab den Ausschlag.
Ingeborg Breuer blieb aber vorsichtig, schaltete auf Standlicht herunter, drehte das Radio leiser (ganz schaltete sie es nicht aus, sie hatte so das Gefühl, nicht ganz allein zu sein), ließ den Motor weiterlaufen und schaute in die Innen- und die Außenspiegel, ob sie hinter sich etwas erkennen konnte.
Doch nichts, keine Bewegung.
Ihr kam eine Idee. Sie legte den Rückwärtsgang ein, um zu sehen, ob sie im Licht der Rückfahrscheinwerfer mehr sehen konnte. Irgendwie war es ihr instinktiv lieber, das Auto in ihrer Fahrtrichtung zu halten und vor allem auch ein Stück vor der rätselhaften Stelle. Ganz schemenhaft meinte sie etwa 50 Meter hinter ihrem Fahrzeug etwas leuchten zu sehen. ‚Klar’, ging es ihr durch den Kopf, ‚der Reflektor vorne am Fahrrad!’ Sie ließ die Kupplung mit ganz wenig Gas kommen und bewegte ihren Wagen langsam und vorsichtig ein Stück zurück, näher an den Ort des Geschehens heran. Ja, es war wohl ein Fahrrad, das da lag. Wenn da auch noch ein Mensch war, musste er weiter hinten liegen. Von hier aus war nichts zu sehen.
Sie wartete noch einen kurzen Moment – immer noch nichts, keine Bewegung, alles still. Es half nun alles nichts, sie musste aussteigen und nachsehen. Wenigstens nachsehen. Die Stimme ihres Gewissens gewann die Überhand gegenüber ihrer Angst. Sie ließ den Motor weiterlaufen und zog die Handbremse leicht an. Dann fiel ihr ein, dass im Handschuhfach eine kleine Taschenlampe lag, die sie an sich nahm. Sie biss die Zähne zusammen, stieg aus, ließ die Fahrertür angelehnt und ging mit leuchtender Taschenlampe die fünfzehn Meter bis zum Fahrrad. Ein normales, einfaches schwarzes Damenrad; Unfallschäden konnte sie bei diesem Licht nicht entdecken. Aber das war ja auch egal.
Wo war die Fahrerin oder der Fahrer? Sie richtete den Strahl der Lampe weiter nach hinten an den Straßenrand – und da sah sie etwas oder jemanden liegen, still und unbeweglich.
Zögernd, doch entschlossen umrundete sie das Rad und näherte sich dem Unfallopfer, auf das sie ständig den Lichtschein gerichtet hielt. Nun stand sie direkt davor. Eine junge Frau offenbar, die da lag, auf der linken Seite, die Beine etwas angewinkelt, den rechten Arm vorgestreckt. Schnell leuchtete Ingeborg noch einmal in die Runde. Nichts. Dann beleuchtete sie wieder die Frau, ging in die Knie und berührte sie leicht an der Schulter. Sie zuckte zusammen. Ihre Hand fuhr zum Kopf der Frau und berührte deren Gesicht.
Es traf Ingeborg wie ein Schlag: Das – das war kein Mensch – alles hartes Plastik: eine Schaufensterpuppe! Ingeborg fuhr wie von der Tarantel gestochen hoch und hetzte, so schnell sie konnte, zu ihrem Auto, eine panische Angst im Nacken. Am liebsten hätte sie geschrien, aber sie beherrschte sich. Sie zwang sich zu laufen, was ihre Beine hergaben, war im nächsten Augenblick ungeheuer froh, dass die Fahrertür nur angelehnt war und der Motor lief. Sie warf sich auf den Sitz, knallte mit aller Wucht die Tür zu, trat traumwandlerisch sicher das Kupplungspedal durch, legte den ersten Gang ein, während sie die Handbremse löste, und fuhr mit Vollgas und quietschenden Reifen mit einem Ruck los. Erst dann schaltete sie das Abblendlicht wieder ein.
Sie hatte im Aufheulen des Motors beim Losfahren noch ein anderes Geräusch zu hören gemeint, fast wie ein Schrei, aber wahrscheinlich hatten ihr ihre aufgepeitschten Nerven nur einen Streich gespielt. Sie schaute nun in keinen Spiegel mehr, sondern starrte bloß auf die Straße, was sie auch tun musste, denn sie fuhr sehr schnell, raste nach Hause, gab weiterhin Vollgas, schaltete wie in Trance die Gänge hoch. Puls und Herz rasten in gleicher Weise.
Ein wenig beruhigte sie sich aber, als sie in ihre von einigen Laternen wenigstens ansatzweise beleuchtete Straße einbog, dann auf den Parkplatz des Vierfamilienhauses, in dem sie ihre Wohnung hatte. Der Bewegungsmelder schaltete pflichtgemäß die etwas zu grelle Außenlampe ein, was ihr freilich im Moment mehr als recht war. Auf ihrem Stellplatz stoppte sie den Wagen, abrupt, immer noch mit wild klopfendem Herzen. Sie schaltete Scheinwerfer und Motor aus. Instinktiv schaute sie in den Rückspiegel. Natürlich alles ruhig. Nun erst mal ein wenig verschnaufen. Sie zwang sich, einige Male tief durchzuatmen, und sagte laut zu sich selbst: „Ganz ruhig! Es ist ja nichts passiert! Du bist heil zu Hause angekommen! Ganz ruhig!“ Dennoch zitterten beide Hände. Also wartete sie noch etwas und überlegte in der Zwischenzeit, was das alles zu bedeuten hatte. ‚Ist es eine Falle gewesen? Aber mit welcher Absicht? Oder war es nur ein Dumme-Jungen-Streich? Oder ‚Versteckte Kamera’? Was sollte das bloß?‘
Als sie sich einigermaßen in der Gewalt zu haben glaubte, als sich Atem, Herz und Puls wieder einigermaßen normal verhielten, öffnete sie die Fahrertür und stieg aus – aber natürlich schickte sie vorher noch einen kleinen Kontrollblick zurück. Was war das? War da nicht eine kleine Bewegung am Hinterrahmen der Tür gewesen, war da nicht etwas heruntergefallen?
Richtig, im Licht der Außenlampe sah sie etwas Kleines links neben ihrem Wagen auf dem Boden liegen. Was war das nun wieder? Sie nahm ein Papiertaschentuch, bückte sich, hob es auf und trug es näher zur Hauslampe, um es sich anzusehen. Kaum im Licht, ließ sie es mit einem schrillen Aufschrei wieder fallen und begann am ganzen Körper zu zittern.
Es war eindeutig das vordere Glied eines menschlichen Fingers, blutig abgerissen. Der Größe und dem Fingernagel nach zu urteilen offensichtlich ein Männerfinger.