18.10.2015 - aktueller Autor - Wladimir Eisner

Wladimir Eisner,

geb. 1947 in Russland (Gebiet Omsk). War viele Jahre als Berufsjäger im nördlichsten Norden Sibiriens tätig. Mitglied einiger Expeditionen zum Nordpol. Mitglied der internationalen Forschungsexpedition „Mammuthus". Mitglied des Literaturkreises der Deutschen aus Russland. Als Schriftsteller, Journalist und Übersetzer bekannt. Publiziert in     russischer und deutscher Sprache in verschiedenen Medien.Mehrere Literaturpreise.

Veröffentlichungen im Geest-Verlag

 

Dreifacher Schrecken

Mit meinen 35 Jahren war ich als Pelzjäger im Norden Sibi-riens tätig. Mein Jagdrevier befand sich auf der Insel Kolossov in der Kara-See am 76. Breitengrad, also tausend Kilometer nördlich vom Polarkreis. Es ist eine eiskalte Wüste mit drei Monaten Polarnacht im Winter, einem Vogelparadies im Sommer und dazu noch einem bekannten ‚Eisbärenentbindungsheim’.
Die Geburtshöhlen befanden sich am westlichen Ufer der In-sel, zwanzig Kilometer von meiner Jagdhütte entfernt. Ich besaß eine Fotokamera und versuchte einige Male näher zu kommen, um Aufnahmen zu machen. Doch vergeblich, die harte Schneekruste knirschte bei jedem Schritt des Anpirschens so laut, dass die Bärin schon von Weitem den Kopf aus dem Luftloch streckte und laut und nervös wie eine Schlange zischte. Da verging einem sofort die Lust, näher heran zu gehen – und ein Zoom-Objektiv für meine Kamera besaß ich leider nicht.
Doch einmal knüpfte ich unfreiwillig Bekanntschaft mit einer Eisbärin und zwar unter ungewöhnlichen Umständen.
Mitte März war die Jagdsaison zu Ende und die Jäger klappten die Fangeisen zusammen, damit die Tiere und Vögel im Som-mer daran keinen Schaden nehmen konnten. Damit war ich damals gerade beschäftigt.
Nach einer 40-Kilometer-Runde fühlte ich mich ziemlich mü-de, aber die Funk-Antenne meiner Hütte war schon in der Ferne zu sehen. Noch ein bisschen, noch ein Stündchen und dann – ein warmes Zuhause, heißer Tee, waschen, essen, ruhen ...
Gerade wollte ich auf meinen Skiern flott vom hohen Ufer herunterfahren und stieß mich kräftig mit beiden Stöcken ab. Nach nur einigen wenigen Metern stürzte ich in eine Grube, die Skier schlugen gegen den harten Boden, dass es vor meinen Augen nur so aufblitzte.
„’s hat dir geglückt, Bursche“, dachte ich so bei mir, „Beine nicht gebrochen, Skier auch noch ganz ...“
Ich bückte mich, um die Skier abzuschnallen, und ... hätte bei-nahe mit der Hand in frischen, dampfenden Bärenkot gegriffen. Schnell den Karabiner her! Verdammt – Schnee im Lauf! Jagdmesser raus, sich an die Schneewand pressen, erbitterten Kampf mit dem wütenden Tier aufnehmen!
Nach wenigen Sekunden des Schreckens merkte ich, wie lä-cherlich meine Kampfbereitschaft war. Die Höhle war leer. Das Luftloch im Dach war weit aufgerissen, unten auf dem Boden lagen harte Schneebrocken.
Ich stapelte diese Stücke aufeinander, kletterte hinauf und war der Falle der Bärenhöhle entronnen. Suchend blickte ich mich um.
Da war sie! Nicht weit von der Höhle, auf dem Packeis – ein hellgelber Flecken. Die Bärin! Ich griff zum Fernglas und er-blickte zwischen den zottigen Vorderpfoten der Bärenmutter ein Junges.
Die Bärin tat einen Schritt mit dem rechten Bein – das Kleine lief zur rechten Pfote. Dann einen Schritt mit dem linken – und es lief zur linken Pfote. Und so ging es unter dem Bauch der Mutter ganz langsam hin und her. Ab und zu blieb die Bärin stehen und schaute aufmerksam zur Höhle zurück. Ob der Mensch dort wohl schießen würde?
Nein, schießen würde er nicht. Im Gegenteil. Er bat um Ent-schuldigung. Unfug hatte er getrieben, wie ein Räuber war er in eine fremde Hütte eingebrochen, hatte die friedlichen Tiere verschreckt.
Wo aber war Nerka? Wo war mein treuer Beschützer? Das wü-tende Bellen hörte nicht auf. Wo aber war er, der tapfere Hund?
Ach ja, dahinten, neben einem großen Findling. Nerka bellte aus Leibeskräften, scharrte und kratzte mit den Hinterpfoten im Schnee, spitzte die Ohren und zeigte ‚viel Mut’, wagte sich aber keinen Schritt weiter nach vorne.
„Lass das Theater, Nerka! Wir Menschen sind ja auch manch-mal so ...“ Ich verfolgte die Spur des Hundes. Sie endete gerade neben einem zweiten Luftloch.
Wie ein Geschoss sprang plötzlich eine Bärin mit dem Jung-tier im Rachen aus dem Schnee hervor und traf Nerka gera-dewegs an ihrem Genick! Kein Wunder, dass beide erschraken. Die Bärin zottelte mit ihrem Jungen davon.
Ich entschuldigte mich noch einmal, dankte dem Herrn und dem Schutzengel, dass meine Begegnung mit den Bären so glimpflich ausgegangen war, schnallte die Skier wieder an, rief den Hund herbei und ging meines Weges. Als die Bärin wahrnahm, dass der Mensch sich entfernte, blieb sie stehen.
Lange noch sah ich durch mein Fernglas zwei alarmiert geho-bene schwarze Nasen, eine große und eine kleine.