19. Januar 2017 - aktueller Autor - Marec Béla Steffens


Mit offenen Augen für die Schönheit und die Absurdität des Alltags haben Marec Béla Steffens (aus Hamburg) und seine Frau Krystyna (aus Warschau) schon in vielen Ländern gelebt – auch zweimal in Houston, zuletzt von 2012 bis 2016. Dies ist nach „Kater, erzähl mir ein Märchen“, „Der Straßenbahnschaffner von Venedig“, „Die Welt der Buchstaben“, „Die Briefmarke von Dublin und der Grabstein von Prag“ sowie „Der Räuber Thymian“ (der da noch in der Heimat sein Unwesen trieb) Marecs sechstes Buch. Krystyna hat es wie immer illustriert.


Steffens, Marec Béla


Marec Bela Steffens

siehe auch die homepage des Autoren: www.maerchenkater.de (link is external)

Aus dem gerade erschienen Buch

Marec Béla Steffens

THYMIAN IN TEXAS

Ein zünftiger Räuber entdeckt die Neue Welt

Ein Sittengemälde, geschildert vom Kater, der Märchen erzählt, in seinem sechsten Buch

Illustriert von Krystyna Steffens

Vorwort von Barrett Sills, 1. Solocellist, Houston Grand Opera
Geest-Verlag 2016

ISBN 978-3-86685-601-1
12 Euro

 

DAS ZWEITE KAPITEL

IN WELCHEM SICH ERST HERAUSSTELLEN MUSS, DASS VOM GREYHOUND BUS DIE REDE IST


Das Wichtigste zuerst. Räuber Rob zeigte dem Räuber Thymian, wie er seinen Antrag auf Reisekostenerstattung einreichen könnte. Dann fragte er, welche Art von Räu-berei Thymian bevorzugen würde. Einbrüche? Banküber-fälle? Nicht doch, Kumpel, Eisenbahnraub kannst du ver-gessen hier. Wir haben zwei Züge. Das heißt, zwei nach Osten und zwei nach Westen. Pro Woche, wohlgemerkt! Den Postbus überfallen? Was zum Henker ist das denn? Ach so, den Greyhound meinst du. Alles klar, auf geht’s.


Rob weigerte sich entschieden, in Thymians Mietwagen Platz zu nehmen. „Ein Kompaktwagen? Was für eine elende Karre. Du mußt auf unsere Reputation achten, Kumpel!“ Also fuhren sie mit Räuber Robs Pick-up. Früher hätte man wohl Pritschenwagen zu so etwas gesagt. Es dauerte fast eine Stunde, bis sie die Stadt hinter sich gelas-sen hatten. Unterwegs bemerkte Thymian eine Taxe, in der jener ältere Herr saß, mit dem er am Flughafen kurz gesprochen hatte.


Räuber Rob wunderte sich, daß Thymian darauf bestand, den Wagen im Unterholz zu verstecken. Immerhin gab es so etwas. Thymian hatte schon befürchtet, in Texas müßte er zwischen stachligen Kakteen auf der Lauer liegen. Während sie auf den Bus warteten, nahm Thymian etwas Schnupftabak zu sich. Sein Husten hatte sich glücklicher-weise wieder gelegt.


Endlich kam der Greyhound-Bus. Er war nicht silberglänzend wie der Spielzeugbus in seiner Jugend, aber an seinem ersten Tag in der Neuen Welt wollte Thymian nicht mäkelig sein. Er rückte seinen Räuberhut zurecht, und mit „Hussa!“ und „Horrrrrrido!“ stürmte er aus dem Unterholz auf den Highway.


Der Verkehr war grauenhaft. Autos umkurvten Thymian rechts und links. Ein Autofahrer drosselte eigens die Ge-schwindigkeit, um Thymian zu erklären, daß er eine orange Warnweste tragen müßte. „Dein Chef muß dir eine geben, so steht es im Gesetz!“
Der Greyhound-Bus wurde kein bißchen langsamer. „Hoho!“ machte der Räuber Thymian, zog eine seiner zwei Pistolen und feuerte einen Warnschuß ab. Der Fahrer winkte freundlich zurück, das war alles.


Thymian war sehr erbost über diesen Mangel an Respekt vor einem ehrsamen Räuber und seiner Pistole. „Na warrrte!“ Ein weiterer Warnschuß, knapp über das Dach des Busses. Diesmal winkten auch einige Passagiere zurück.


„Donnerrr und Dorrria, was warrr das denn?“ fragte der Räuber Thymian, als er das schützende Unterholz wieder erreicht hatte. – „Nimm den nächsten, Kumpel“, versetzte Räuber Rob, „in ein paar Minuten kommt wieder einer.“


Diesmal schoß Thymian aus beiden Pistolen, was die Magazine nur hergaben. Auch diesmal wurde der Bus kein Stück langsamer. Auch diesmal winkten Fahrer und Rei-sende freundlich zurück.


Thymian war völlig geplättet. Alle möglichen Autofahrer winkten ihm jetzt zu. „Nette kleine Pistolen hast du da!“ riefen ihm manche zu. Andere zeigten, daß sie in ihren Pick-ups auch Waffen dabei hatten. Manche feuerten sogar einen oder zwei Schüsse ab, um Thymian zu grüßen.


Fassungslos und niedergeschlagen bat Thymian Rob um eine Erklärung. – „Na ja, weißt du, Kumpel … nächstes Mal, wenn du Leute mit deinen niedlichen kleinen Pistolen beeindrucken willst, dann stell dich nicht ausgerechnet vor so ein Plakat.“ – Thymian hatte gar nicht bemerkt, daß sich am Straßenrand eine riesige Plakatwand befand. ‚Die größte Messe für Schußwaffen in ganz Texas‘ stand darauf geschrieben.


„In zwanzig Minuten kommt noch so ein Bus“, bemerkte Räuber Rob. „Aber diesmal läßt du mich die Stelle auswählen, okay?“
Diesmal schoß Thymian auf den Reifen. So mußte man es machen. Der Bus schlingerte ein wenig und hielt an. „Höhöhö“, machte Thymian und ging auf die vordere Tür des Busses zu. Doch Rob versuchte ihn aufzuhalten: „Verdammt! Ein Bulle!“ schrie er. „Da kommt die Polen-te!“ Mit quietschenden Reifen hielt ein Streifenwagen direkt neben Thymian. Was für einen lausigen Start hatte er in der Neuen Welt!
Zu seinem Glück war der Räuber Thymian nie um eine Ausrede verlegen. „Ich wollte den Busfahrrrerrr nurrr warrrnen, daß mit seinem Rrreifen etwas nicht stimmt“, wollte er vorbringen. Doch der Polizist hier war aus einem anderem Holz geschnitzt als der Stadtpolizist in Thymians Heimatort. Er fragte nicht nach Erklärungen, er schoß sofort! Kugeln pfiffen links und rechts an Thymian vorbei. Mit Müh und Not erreichte er das Unterholz.


Der Freund und Helfer handelte streng nach Dienstanwei-sung. „Sie haben das Recht zu schweigen!“ rief er zwischen seinen Salven. „Was Sie sagen, kann gegen Sie verwendet werden! Sie können verlangen, daß ein Anwalt zugegen ist, während ich auf Sie schieße!“
Zu Thymians Glück war Räuber Rob auf seinem Posten. Mit seinem Sturmgewehr gab er dem Gast aus Deutschland Feuerschutz. Da ging der Polizist lieber hinter seinem Wagen in Deckung. Auch Räuber Rob war keineswegs auf den Mund gefallen: „Schützt unsere Verfassung! Sie gibt allen Bürgern das Recht, Waffen zu tragen und sie auch zu benutzen. Freie Schußbahn für freie Bürger!“


Der Polizist fühlte sich Robs Argumenten unterlegen und folgte Thymian daher nicht ins Unterholz. Stattdessen eskortierte er den Bus in die nächste Stadt. So entgingen Thymian und Rob der Verhaftung. Doch ein Tag war vertan, und keine Beute gemacht.


„Ein guter Kumpel, dieser Thymian“, berichtete Rob dem Räuberboss gegen Abend, „aber nicht gerade der Hellste.“ – „Womöglich muß er die Räuberei aufgeben und ein ehrliches Leben führen“, sinnierte der Räuberboss, „obwohl das nicht gerade einfach ist in diesem Land.“ – „Oder wir schicken ihn nach Pennsylvania“, überlegte Räuber Rob, „wo er doch so altmodisch ist. Soll er die Amish überfallen. Die fahren noch mit Pferdekutschen durch die Gegend!“


Wird der Räuber Thymian in Amerika scheitern? Nun, er berichtet all seine Erlebnisse dem Kater, der Märchen erzählt, und der schreibt sie dann auf. So werden wir also erfahren, wie es mit Thymian in Texas weitergehen wird.