25. 05. 2024 - aktuelle Autorin - Sabine Hertgen

Sabine Hertgen
lebt mit ihrem Mann in Frankreich und ist seit ihrem 51. Le-bensjahr behindert. Sie ist Österreicherin und hat lange Zeit in Wien gewohnt und gearbeitet. Die Behinderung hat ihr Leben nachhaltig verändert.
 

 

 

Sabine Hertgen
Zwei Wellen

Wenn ich am Strand stehe und den Wellen lausche, sehne ich mich nach dem Meer.
Mein Mann und ich fahren jeden Sommer in die Bretagne ans Meer. Ich freue mich das ganze Jahr auf diesen Urlaub. Ich liebe das Meer, seine Weite, seine Farben und seinen unverkennbaren Geruch.

Als ich noch sehen konnte, stand ich jeden Morgen früh auf, um am Strand spazieren zu gehen. Um diese Zeit war ich nie allein. Es tummelten sich dort auch einige andere Frühaufsteher: Pensionisten, die jeden Morgen aufs Neue ihre Freiheit begrüßten; Hunde, die ihre Besitzer an der Leine führ-ten, und Pferde, die ihre Reiter spazieren trugen. Und da waren natürlich auch die Muschelsucher – ein bunter Haufen an zusammengewürfelten Menschen, die alle am Morgen dem Meer nah sein wollten so wie ich. Damals nahm ich die Welt um mich herum vorwiegend mit meinen Augen wahr.

Dann verlor ich mein Augenlicht und konnte das Meer und die Menschen um mich herum nicht mehr sehen. Ich konnte meine Umgebung nur noch hören, riechen, schmecken und fühlen. Um das Meer zu sehen, musste ich mich daran erin-nern. Das tat ich auch während der vielen Wochen, die ich im Krankenhaus verbrachte. Wenn ich meine Augen schloss, sah ich das Meer. Wenn ich meine Augen öffnete, blickte ich in die Dunkelheit. Diese Dunkelheit wurde nur durch die Stimmen und Geräusche der Krankenschwestern unterbrochen, die ins Zimmer kamen, um mich zu waschen und zu füttern. Bald schon erkannte ich die Krankenschwestern an ihren Stimmen: Natalie, Fanny, Morgane, Elize, Mathilde, Pauline, Marine, Sabrina, Magimbo – ein Konzert von Na-men, die bis heute in mir nachklingen. Mein Mann kam je-den Abend zu mir ins Krankenhaus. Er berührte meine Hand und küsste mich auf die Stirn, wie man es bei einem kranken Kind macht. Anders als bei einem Kind sagte er jedoch nicht: „Es wird alles wieder gut.“ Wir wussten beide nicht, ob es jemals wieder gut werden würde.
Als ich von den Ärzten in die normale Welt entlassen wurde, verstummten die Geräusche und die Stimmen. Es wurde still, und das Klima änderte sich. Die Stille brachte auch eine ungeahnte Kälte mit. Wo ich einen warmen Empfang erwartete, wehte ein kühler Wind, der von kargen Worten beglei-tet war. Während in Australien ein Feuer wütete und der Klimawandel die Gemüter erhitzte, stürzte die Temperatur in meiner unmittelbaren Umgebung jäh ab. Der Kontakt zu vielen Menschen verlor sich und brach schließlich ganz ab, manches Mal abrupt, indem sie sich nicht mehr bei mir meldeten, oder auch sanft, indem sie immer öfter sehr beschäftigt waren und „leider“ keine Zeit hatten. Ich hatte anderes erhofft, doch meine neue Situation schien die meisten Menschen in einen alternativlosen Rückzug zu drängen. Sie wussten vermutlich nicht, wie sie mit mir umgehen sollten, denn ich erfüllte die Kategorie „gesund und normal“ nicht mehr. Nur mein Mann war immer da, mein treuer Wegbegleiter.
Im Sommer nach meiner Wiedergeburt als behinderter Mensch fuhren wir wieder ans Meer. Ich konnte jedoch mit meiner Behinderung nicht mehr allein am Strand spazieren gehen. Ich wartete jeden Tag darauf, dass mein Mann Zeit hatte, mich zum Strand zu begleiten, damit ich das Meer hören, fühlen und riechen konnte.
Trotz meiner ständigen Angst, mich zu verirren, stand ich am siebten Tag früh auf und ging allein zum Strand. Ich hatte mir den Weg die Tage zuvor gut eingeprägt. Dort angekommen, ging ich vorsichtig ein paar Schritte im Sand. Ich lauschte, wie sich die Muschelsucher über ihre Schätze un-terhielten. Ich hörte die Hunde bellen und die Pferde durch den Sand traben. Ich spürte den Wind und die Sonne auf meiner Haut, und meine Nase nahm den unverkennbaren Geruch des Meeres wahr. Nach einer Weile zog ich meine Schuhe aus und spürte den Sand unter meinen Füßen. Er war kühl, noch ungeküsst von der französischen Sonne. Ich dreh-te mein Gesicht zum Meer und hörte den Wellen zu. Es war ein Chor von Tränen, so schien es mir, der nicht aufhören wollte, dem Meer sein Leid zu klagen, damit es leichter zu ertragen war. Manches Leid war klein, manches groß, manches wurde stürmisch vorgetragen, manches sanft und leise. Alle Wellen unterstützten sich auf ihrem gemeinsamen Weg, Seite an Seite, Welle für Welle.
Ich ging vorsichtig auf das Wasser zu und badete meine Füße in diesem Meer aus Tränen. Im Gegensatz zu den Wellen war ich allein mitten unter den anderen Menschen am Strand. Ich konnte sie nicht ausreichend sehen, um teilzuhaben. Meine Behinderung trennte mich von ihnen und machte mich für sie unsichtbar. Diese Wahrnehmung erzeugte eine tiefe Trauer in mir. Ein tiefes Schluchzen bahnte sich seinen Weg an die Oberfläche und überflutete mein Gesicht. Ich konnte nichts dagegen tun. Also blieb ich stehen und teilte meine Tränen mit dem Meer.
Plötzlich hörte ich meinen Namen. Mein Mann war mir nachgegangen. Er stand neben mir und berührte sanft mei-ne Hand. Dann drückte er sie. Wir standen eine ganze Weile da, Seite an Seite, ohne ein Wort zu sprechen. Dann sagte mein Mann: „Morgen kommen wir beide wieder hierher.“ Ich nickte. Zwei Wellen sind noch kein Meer, aber ein guter Anfang, dachte ich bei mir.

  Siegrbeitrag des 4. B-bobs Literatur-Wettbewerbs für Menschen mit Beeinträchtigung im Geest-Verlag 'Leben will sich neu entfachen