Alina Marten - Libellen im Käfig (Jugendliche melden sich zu Wort)

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alina marten
libellen im käfig

 

Libellen im Käfig

In einer dunklen Winternacht beschloss Caro einen kleinen Nachtspaziergang zu machen. Da sie zu Hause mal wieder Ärger mit ihrer Stiefmutter hatte, tat ihr die frische Luft gut. Vor Kurzem erst hatte sie einen Weg gefunden, aus ihrem Zimmer, das zu ihrem Bedauern im zweiten Stock lag, nach unten zu gelangen. Sie überlegte kurz, ob sie bei ihrer Nachbarin ein Steinchen ans Fenster werfen sollte, entschied sich dann aber doch anders. Sophie wür-de ohnehin schon schlafen. Also machte sich Caro alleine auf den Weg. Je länger sie draußen war, desto mehr hatte sie Lust, zu Sophies und ihrem Versteck zu gehen. Es war ein fabelhaftes Versteck, eine verlassene Fabrik in Haspe. Diese Fabrik diente früher der Zwiebackherstellung, auch jetzt lagerten dort noch Unmengen an Gerümpel.
Klar, es war um diese Uhrzeit schwierig, von der Stadt Wetter nach Haspe zu gelangen. Die zwei Kutschen, die sonst immer vor ihrem Haus hielten, fuhren um diese Uhrzeit längst nicht mehr. Nach einem erneuten Blick auf das Schlafgemach ihrer Stiefmutter entschloss sich Caro, sich zu Fuß auf den Weg zu machen. Alte Bäume, an denen sie vorbeiging, warfen schaurige Schatten auf ihren Weg, und alle schienen auf irgendeine Weise lebendig zu werden. Tatsächlich beugte sich eine alte Eiche über den Weg, und aus ihrem Blattwerk rauschte ein „Kehr um, Caro, kehr um!“. Doch Caro setzte ihren Weg unbeirrt fort. Endlich kam sie, völlig verfroren, an ihrem Ziel an. Der Wind war kälter, als sie zunächst gedacht hatte, also kroch sie, so schnell es ihre frierenden Knochen zuließen, durch das kleine Loch im Zaun. Wohl kaum jemand würde auf die Idee kommen, dass es in diesem rie-sigen, eigentlich undurchdringlichen Zaun ein Loch geben würde. Caro selbst hatte das früher auch gedacht, bis zu dem Tage, an dem Sophie und sie an diesem Gemäuer Beeren für ihre Eltern gesucht hatte. Es war ein riesiger Himbeerstrauch gewesen, der sie auf das Loch aufmerksam machte. Als ganz normaler Fußgänger konnte man noch nicht einmal den noch so großen Himbeerstrauch sehen.
Schließlich war Caro durch das inzwischen fast zu-gewucherte kleine Loch gestiegen und sah sich su-chend um. Sie sah nach der Tür, die zu dem Zim-mer führte, in dem Sophie und sie so oft gesessen hatten, um sich vor dem kalten Wind zu schützen. Im Dunkeln war es doppelt so schwer, sich seinen Weg durch die Steine und das Gerümpel zu bahnen. Schließlich gelang es ihr, die richtige Tür zu erreichen. Mit einem Seufzer stellte sie fest, dass sie vergessen hatte, ein paar Streichhölzer mitzunehmen. Also hangelte sie sich leise und vorsichtig am losen Geländer der Treppe hinauf. „Aua!“, schrie Caro plötzlich. Sie war in der Dunkelheit ge-gen einen herumstehenden Balken gelaufen. Ihre Hand zitterte, als sie an die schmerzende Stelle ge-langte. Sie fühlte sich kalt und feucht an. Caro hoff-te, dass die Wunde nur halb so schlimm war, wie sie sich anfühlte. Mit einem leichten Schwindelge-fühl stolperte sie zu dem Raum. Erschöpft setzte sie sich auf den kalten Boden und schlief schließlich ein. Caro wachte erst auf von hohen, wild diskutie-renden, jedoch kaum zu hörenden Stimmen. Sie stand vorsichtig auf und ging im Dunkeln aus dem kleinen Raum, um den Stimmen zu folgen. Doch alles war wieder mucksmäuschenstill. Leise tastete sie sich weiter nach vorne, von wo sie glaubte, die Stimmen zu hören. Plötzlich kam ein unüberhörba-res Poltern aus der großen Halle in der Mitte der Fabrik. Schnell lief sie in Richtung des Lärms, blieb aber im finsteren Schatten der Wände. Erneut hörte sie kaum wahrnehmbare Stimmen.
So leise sie konnte, schaute Caro um die Ecke. Da sah sie es. Es war etwas seltsam Leuchtendes. Sie war sich sicher, die so hilflos klingenden Stimmen kamen aus diesem Leuchten. Jedoch konnte Caro kaum etwas erkennen. Sich umsehend humpelte sie auf das Leuchten zu. Das Licht war in einem käfigähnlichen Gefäß. Es bestand aus wild flattern-den libellenartigen Wesen. Gerade als sie das Gefäß öffnen wollte, stolperte sie über ein altes Brett. Dann hörte sie schnelle Schritte auf sich zukom-men. So schnell sie konnte, verschwand Caro hinter einem hohen Pfeiler. Sie hielt die Luft an, als eine Person unüberhörbar an ihr vorbeihuschte. Als Caro vorsichtig hinter dem Pfeiler hervorlugte, erschrak sie und traute ihren Augen nicht. Es war ihre Stiefmutter, vor der sie eigentlich geflohen war. Ihr Herz pochte so laut, dass sie Angst hatte, es könne sie verraten. Sie wartete, bis sich die Schritte wieder entfernten. Sie war sich fast sicher, dass ihre Stiefmutter Böses mit den wundervollen libellenar-tigen Wesen vorhatte. Caro lief zu dem Leuchten und schaute neugierig in das konische Gefäß. Sie konnte kaum etwas sehen, so hell war das Licht. Bei genauerem Hinsehen fielen ihr die unnormal großen Flügel auf. Die Wesen sahen so aus, als stammten sie direkt aus den vielen Geschichten, die ihr die Großmutter damals erzählt hatte. Lang-sam zweifelte sie, ob es wirklich Libellen waren. Vielmehr glaubte sie an …
Plötzlich hörte Caro wieder Schritte. Ein Fehler und etwas Schlimmes würde passieren, da war sie si-cher. Verzweifelt und so schnell sie konnte versuchte sie, das Gefäß zu öffnen, doch vergebens. Die Schritte kamen immer näher, und es blieb keine Zeit, sich zu verstecken. „Ahhhr, was machst du hier?“, schrie ihre Stiefmutter mit einer unglaublichen Wut in ihrer Stimme. Caro versuchte verzwei-felt nach einer Antwort. Ihre Augen glitten über zahlreiche Gegenstände, die in der Halle herum-standen. Erst jetzt bemerkte sie, dass ein großer Kessel neben ihrer Stiefmutter stand. „Ich, ich, ...“, stotterte Caro, die noch immer nicht wusste, was sie sagen sollte. Ihre Stiefmutter wirkte im Schat-ten der Wände noch schauriger als sonst. Ganz langsam und kaum merkbar kam sie mit einem finsteren Lächeln auf Caro zu. Sie wich zurück und ging immer weiter nach hinten. Urplötzlich und blitzschnell rannte die Stiefmutter auf Caro zu. Er-schrocken drehte diese sich um. Ausgerechnet jetzt machte sich ihre Wunde bemerkbar, und Caro ver-spürte ein leichtes Schwindelgefühl. Sie lief, so schnell sie konnte, in Richtung Ausgang. „Hilfe, lass uns nicht allein!“, riefen die kleinen Wesen, diesmal aber viel lauter. Wie konnte sie sie nur vergessen?
Mit einer geschickten Bewegung brachte Caro ihre böse Stiefmutter dazu, nach links zu sehen, dann lief sie geschwind zu der Stelle, wo das kleine leuchtende Gefäß stand. Zwar hatte die Stiefmutter durch ihre Bewegung etwas Zeit verloren, dafür war sie umso schneller auf Caros Fersen. Jetzt musste sie sich beeilen, denn sie kam ihr gefährlich nahe. Um das Gefäß vorsichtig zu nehmen, blieb keine Zeit, also schnappte sich Caro die Wesen in vollem Lauf. „Pass auf!“, riefen sie, doch es war zu spät. Die böse Stiefmutter hatte sich auf sie ge-stürzt. Um sich abzustützen, öffnete Caro die Hän-de. Das leuchtende Gefäß schleuderte durch die Luft und fiel klirrend zu Boden. Der merkwürdige Käfig zerfiel in tausend Teile. „Nein!“, schrie die Stiefmutter, während sie Caro gegen eine Wand stieß. „Das wirst du bereuen, Caro!“, schrie sie wei-ter, während sie auf sie zuging. Caro wollte ausweichen, doch sie hatte keine Kraft mehr.
In genau diesem Moment flogen vier oder fünf Wesen flink auf die Stiefmutter zu. Sie flogen so schnell, dass sie gleich zwei Schritte zurück machen musste. Das genügte. Caro nahm ihre letzte Kraft und stieß mit solch einer Wucht gegen ihre Stief-mutter, dass diese das Gleichgewicht verlor und rücklings in den Kessel stürzte. Eines der Wesen flog schnell zu einem Seil, an dem noch ein Mehl-sack aus früheren Zeiten hing. Dieser Sack war Ca-ro noch gar nicht aufgefallen. Das Wesen löste blitzschnell das Seil, und der schwere Mehlsack plumpste auf die böse Stiefmutter. Caro schaute in den Kessel hinein, in dem diese im grünlich schimmernden Wasser mit den Armen winkte. Schließlich sah Caro ihren Kopf nicht mehr, und wenig später war alles still. Erst ein kleines Wesen unterbrach die Stille: „Sie ist ertrunken! Sie ist ertrunken! Und wir sind endlich frei!“ Jetzt, wo Caro die kleinen Wesen betrachtete, war sie sich ganz sicher. Es wa-ren Elfen. „Wir sind frei! Und das alles wegen dir! Wie können wir dir nur danken?“, fragte eine blaue Elfe. Bevor Caro etwas sagen konnte, ergriff eine grüne Elfe das Wort: „Ah, nein, du brauchst nichts zu sagen, ich kenne deine Gedanken.“ Sie drückte Caro ein silbern glänzendes Pulver in die Hand. „Es wird deinen größten Wunsch erfüllen. Puste es fort, mache dabei die Augen zu und denke an das, was du dir am meisten wünschst“, flüsterte sie, gab Caro einen Kuss auf die Wange und verschwand. Auch die anderen Elfen verschwanden. Nur das Pulver blieb in ihrer Hand. Es war still. Und Caro tat genau das, was die Elfe ihr erklärt hatte: Pusten, Augen zu und an den Wunsch denken. Als sie die Augen wieder öffnete, hatte sich nichts verändert. Enttäuscht und mit mulmigem Gefühl ging sie entlang der alten Kohlenbahntrasse über die Schienen nach Hause. „Gut gemacht, Caro! Du hast bestimmt das Richtige getan“, rauschte die alte Eiche. „Das hoffe ich sehr“, antwortete diese.
Müde kam Caro zu Hause an und ...  sie traute ihren Augen nicht. In der Tür stand ihr Vater und in seinen Armen ... ihre Mutter. „Mutter? Oh Mutter!“, rief Caro überglücklich ihren Eltern zu und lief ihnen in die Arme. Dank der Elfen waren sie wieder eine richtige Familie. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute.

Alina Marten ( 12 Jahre )