Beatrice Grieger - Ein wesentlicher Einschnitt (Jugendliche melden sich zu Wort am 19. Januar)

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Ein wesentlicher Einschnitt

Erst heute bin ich dem Vorurteil „Frauen gehören hinter den Herd“ begegnet. Wir hatten eine Diskus¬sion im Pädagogik-Kurs, bei der es darum ging, welche Funktion der Vater bzw. der Mann hat, diese lenkte sich jedoch schnell in eine andere Richtung, nämlich in die Fragestellung, inwieweit es eigentlich eine Gleichberechtigung für Mann und Frau gibt und geben sollte. Die Frage nach der „Funktion“ des Vaters bzw. des Mannes gefiel mir dabei durchaus. Funktion des Vaters? Funktion der Mutter? Funk¬tion der Frau?
Wir haben also Funktionen, vielmehr scheint es so zu sein, dass wir in bestimmten Bildern und Rollen¬verständnissen schlicht zu funktionieren haben.
Teilweise war ich demnach auch sehr erschrocken von den Ansichten einiger Schüler, die zum Beispiel behaupteten, dass Frauen von Grund auf dafür geschaffen seien, in der Küche zu arbeiten, Kinder zu erziehen und für den Mann alles stets parat zu haben. Man definierte den Mann als dominierendes Wesen, welches in einer Familie immer das bestim¬mende Wort hat. Wenn er „Nein“ sagt, heißt es auch nein. Also so funktioniert Familie, dass Frauen funktionieren und es ihre Funktion ist, sich dem Mann unterzuordnen?
Ich finde, diese Sichtweise ist nicht mehr als ein Vorurteil und darin ist sie vollkommen überflüssig, da ich denke, dass wir in unserer heutigen Zeit so weit fortgeschritten sein müssten, dass wir wissen sollten, dass Frauen die gleichen Rechte und Pflichten und auch die gleichen Möglichkeiten haben wie ein Mann.
Frauen sollten wie Männer die gleichen Chancen haben, einen Beruf auszuüben, um die soziale und gesellschaftliche Gleichheit der Menschen zu ge¬währleisten. Es geht ausdrücklich um Gleichheit, vielleicht sogar um Freiheit. Es geht eben nicht um Funktionen und schon gar nicht darum, als Frau einfach nur funktionieren zu müssen.

Ich bin diesem Vorurteil schon einmal begegnet, das sogar ziemlich früh.

Und zwar bei meinem leiblichen Vater, der schon meine Mutter und seine Mutter oftmals als unfähig ansah. Er ist der typische Handwerker (ja, ich weiß, auch das ein Vorurteil), oder sagen wir mal Polste¬rer, der so gut wie alles übernommen hat, fast schon bestimmt hat; ob es die Wohnung war, finanzielle Anschaffungen. Selbst die sonst so behauptete femi¬nine „Dekorationsgeschichte“ bestimmte immer er, obwohl das doch eigentlich zur Funktion der Frauen gehört. Oder habe ich etwas missverstanden?
Es war für ihn normal, dass er als Hausherr den Tagesablauf bestimmte und auch, dass nur er seine Meinung sagen und vertreten durfte. Um es mal zu¬sammenzufassen, würde ich sagen, dass mein Vater mir und meiner Mutter als Chauvinist begegnet ist.
Bis heute hat er es noch nicht gelernt oder ver¬standen.
Nur, das kann mir ziemlich egal sein, denn ich lebe ja nicht mehr bei ihm, und das von dem Zeitpunkt an, als meine Mutter seine Tagesordnung durch¬brochen hat, und einfach mal seine Gardine nach ihren Belieben zerschnitten (umdekoriert) hat.
Das war dann im wahrsten Sinne des Wortes ein Schnitt!

Beatrice Grieger

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