Berlin mit Akzent - Anton aus einem afrikanischen Land
Hördatei:
Anton aus einem afrikanischen Land
 Nicht verheiratet, zwei Kinder, arbeitet als Diplom-Ingenieur
 Mein Alter kann ich nur in Klammern sagen. Bei uns gibt es nämlich keine  Geburtsurkunden, ich habe zwei unter¬schiedliche Geburtsdaten. Aber  offiziell, in meinen Unter¬lagen, bin ich 62 Jahre alt.
 In Deutschland muss man ein Geburtsdatum haben und ab und zu auch Geburtstag feiern.
 Ich bin nicht verheiratet, habe aber zwei eigene Kinder und die Kinder meiner Freundin mit großgezogen.
 Von Beruf bin ich Diplom-Ingenieur, habe auch eine Aus¬bildung bei der Oberpostdirektion absolviert (Fernmeldetechnik).
 Nach Deutschland bin ich gekommen, weil ich versuchen wollte, etwas zu lernen. Das war für mich in meiner Heimat unmöglich.
 Von den Kolonialherren haben wir etwas Fatales geerbt. Wir wurden  nämlich streng nach bestimmten Volksgruppen eingeteilt (sprich Stämme).  Menschen aus meiner Volks¬gruppe waren damals unterdrückt, und es war  ihnen unter¬sagt, ein Studium anzufangen. Nach einem Massaker sind die  meisten Menschen meiner Volksgruppe aus dem Land geflohen. Die, die  geblieben sind, haben versucht, irgend¬wie weiterzuleben, aber die  Chance, zur Schule zu gehen und weiterzukommen, war praktisch nicht  vorhanden.
 Manchmal war es für eine Weile ruhig, dann konnte man für eine bestimmte  Zeit eine berufliche Ausbildung machen oder die Schule besuchen, aber  wenn die Spannungen sehr groß waren, konnte man nur aus dem Land  fliehen, um überhaupt zu überleben. In solchen Zeiten ging es wirklich  nur um Leben und Tod. Massaker gab es periodisch immer wieder.
 Freunde haben mir geholfen, aus meiner Heimat heraus¬zukommen. Es war  sehr kompliziert. Ich bin nach Westdeutschland gekommen, erst viel  später kam ich nach Berlin.
 Als ich nach Deutschland kam, war ich noch sehr jung, ungefähr 22 Jahre  alt. Ein Freund hat mir geholfen, eine Organisation zu finden, die  Ausländer aus Ländern der Dritten Welt finanziell unterstützt hat. Sie  haben mir eine Unterstützung für drei Jahre genehmigt. Ich dachte mir:  „Na gut, erst mal bin ich für drei Jahre sicher, und dann werden wir  sehen …“
 Damals durfte man in Deutschland nur bleiben, wenn man eine berufliche  Ausbildung absolvierte oder wenn man Student oder Gastarbeiter war. Auch  wenn man einen dop¬pelten Doktortitel hatte, nutzte das einem nichts.  Entweder du warst ein Gastarbeiter oder du hast eine Einladung der  deutschen Regierung gehabt, in Deutschland zu studieren. Und wenn dein  Studium fertig war, musstest du zurück in dein Heimatland gehen. 
 Aber in welche Heimat? Ich wollte ja zurück, immer. Das war meine ‚Krankheit’, dass ich immer zurückwollte.
 Mein erster Eindruck von Deutschland war: Es ist kalt. Ich war  schockiert, wie kalt es sein konnte. Ich bin im Winter gekommen und  hatte keine Winterkleidung. Ich trug ein Sakko und hatte es geschafft,  mir eine Krawatte umzu¬binden.
 Als wir ankamen, bemerkte ich, dass alle Mitreisenden ihre Jacken enger  um ihren Hals schlossen, und ich fragte mich, warum sie das machen  würden? Zudem sagten sie auch alle: „Scheiße!“ 
 Da fiel mir ein, dass mich ein Mann im Flugzeug gefragt hatte: „Kannst  du Deutsch?“ Ich hatte mit „Nein“ geantwortet. Darauf hatte er mir  gesagt: „Das ist egal, aber ein Wort musst du lernen, das Wort  ‚Scheiße’.“ 
 Ich hatte ihn gefragt, warum ich dieses Wort können müsste. Er hatte  gemeint, dass es eben sehr wichtig in Deutschland wäre, das Wort müsste  ich einfach wissen. 
 Als ich dann das Flugzeug verlassen hatte, merkte ich, dass er  tatsächlich recht hatte. Alle Passagiere mussten jetzt durch den Schnee  marschieren, und alle sagten: „Scheiße!“
 Ich dachte mir: ‚Der Man ist gut, alle sagen dieses Wort.’ Ich habe ihm  sogar auf Englisch gedankt: „Danke, das war wirklich sehr wichtig.“
 Ich hatte damals leider keine Jacke zum Schließen. Ich war sehr  schockiert, dass es so kalt sein konnte. Wir sind ge¬rannt, ich wusste  gar nicht wohin, und dann waren wir auf einmal im Flughafengebäude.
 Im Gebäude bemerkte ich dann, dass es dort warm war. Ich wusste aber  nicht, warum es drinnen warm war und drau¬ßen nicht. Ich dachte,  viel¬leicht ist es an einem Flughafen einfach so.
 Am Schalter fragte mich ein Mann: „Hast du keinen Mantel?“ Ich fragte  ihn: „Wozu?“ Er meinte: „Hier ist es so kalt.“ „Na ja, wo sollte ich  einen Mantel herkriegen? Im Flugzeug hat mir keiner etwas gesagt.“
 Er schaute mich an und schüttelte dem Kopf.
 Ich wollte wegen der Kälte nicht aus dem Flughafen¬gebäude rausgehen,  aber wir mussten mit dem Zug nach Saarbrücken weiterfahren. Da begriff  ich langsam: „Aha, in dem Zug ist es auch warm, draußen ist es kalt.  Irgendetwas passiert, wenn du drin bist, dass es warm wird.“
 Und da erinnerte ich mich an eine Geschichte aus meiner Schulzeit in  meiner Heimat. In unserem europäischen Schul¬buch gab es einen Witz: Die  Schüler verglichen ihre Noten, wer wohl den besten Platz in der  Noten-Rangliste hätte. Ein Schüler hatte eine schlechte Note, die  anderen sagten ihm, er hätte ja trotzdem den besten Platz gekriegt, da  er neben der Heizung sitzen würde.
 Als wir das damals gelesen hatten, lachten wir, aber nur weil wir  gemerkt hatten, dass unser Lehrer es so wollte. Wir haben es nicht  verstanden, was es bedeutete, neben der Heizung zu sitzen.
 Ich hatte in meinem Leben noch nie eine Heizung gesehen, ich wusste  nicht, wie eine Heizung aussieht. Damals bei meiner Ankunft dachte ich:  ‚Also doch, es muss eine Hei¬zung geben! Aber wo ist diese verdammte  Heizung?’ Ich habe die Heizung überall gesucht, aber nicht gefunden. Ich  dachte nämlich, für eine Heizung muss man Feuer haben, und das muss man  ja irgendwo sehen. 
 Wenn ich heute eine Heizung sehe, muss ich immer an meine Ankunft denken.
 Ich kam in einen Home-Sprachkurs, ein Institut für Spra¬chen, in dem man  auch zugleich wohnen konnte. Dort haben viele ausländische Studenten  erstmal gewohnt und die Sprache gelernt.
 Und dort bemerkte ich, dass es in dem Zimmer meines Kumpels immer schön  warm war. Wir konnten dort immer gemütlich zusammensitzen und unseren  Tee trinken, in meinem Zimmer hingegen war es immer kalt.
 Mein Kumpel hat sich gewundert, dass ich nach dem Unter¬richt immer zu  ihm gehen wollte. Samstags mussten wir selber einkaufen und kochen. Da  habe ich immer alles eingekauft und zu ihm gesagt, dass er das nicht  müsse, da ich für uns beide alles besorgen würde. Nach dem Einkauf  brachte ich alles in sein Zimmer, dann kochten wir zusam¬men.
 Ich war es ja gewohnt, immer mit anderen Menschen zu¬sammen zu sein, in  meiner Heimat war ich nie allein. Ich hatte zum Beispiel bis dahin auch  noch nie einen Haus¬schlüssel besessen. Nie! Man musste bei uns in der  Heimat nie die Tür zumachen, es war ja immer jemand da.
 Irgendwann fragte mein Freund mich, wieso ich immer für uns beide  einkaufen würde. „Du hast doch nicht mehr Geld als ich.“ Ich antwortete  verlegen, dass das doch egal wäre. Fakt war, bei ihm war das Zimmer  einfach warm und bei mir nicht. In meinem Zimmer musste ich immer  Pullover und Jacke anziehen und bin auch so angezogen ins Bett  ge¬gangen.
 Irgendwann kam mein Freund dann doch in mein Zimmer und bemerkte, wie  kalt es bei mir war, wusste aber auch nicht, warum das so war. Wir  wunderten uns beide.
 „Du musst dem Hausmeister sagen, dass er dir ein anderes Zimmer geben soll, in dem es auch warm ist“, meinte er schließlich.
 Als ich die deutsche Frau traf, die im Korridor putzte, sagte ich ihr,  dass ich ein anderes Zimmer haben möchte. Sie entgegnete, dass das nicht  gehen würde.
 „Aber bei den anderen ist es warm im Zimmer und bei mir nicht“, klagte ich.
 Sie ging in mein Zimmer, machte etwas, was ich nicht sehen konnte, kam  wieder heraus, schaute mich seltsam an, schüttelte den Kopf und machte  mit der Zunge: „Zats, Zats, Zats …“
 Dann sagte sie noch etwas auf Deutsch, das ich nicht verstanden habe, und setzte ihre Arbeit fort.
 Ich dachte mir, dass diese Frau wohl ein wenig dumm wäre, und ging mit  meiner Sprachlehrerin, damit sie für mich übersetzen würde, zum  Hausmeister. Der kam mit in mein Zimmer, ging zum Fenster, schaute sich  den darunter be¬findlichen Heizkörper an und fragte mich: „Ja, wieso  heizt du denn nicht?“
 „Heizen? Wie soll ich denn heizen? Mein Freund heizt ja auch nicht – und  bei ihm ist das Zimmer warm. Wie soll ich hier Feuer machen? Im dritten  Stock kann ich doch kein Feuer machen!“
 Ich dachte mir, dass auch der Hausmeister ein wenig dumm wäre, und bin gegangen. 
 Aber als ich am Abend in mein Zimmer zurückkehrte, war es dort mit einem  Mal schön warm. Ich holte schnell meinen Freund und fragte ihn: „Schau,  jetzt ist es auch bei mir warm. Verstehst du das?“ Doch er verstand es  auch nicht. „Egal“, meinte ich, „jedenfalls kannst du jetzt auch zu mir  kommen, und wir können hier kochen.“ 
 Zu den Deutschen hatte ich am Anfang wenig Kontakt. Durch den  Sprachunterricht waren wir mehr unter uns. Wir waren dort aber nur zwei  Afrikaner, ansonsten gab es im Institut viele Lateinamerikaner. Ich  konnte zum Glück, da ich Französisch sprach, viel von ihrem Spanisch  verstehen, so konnten wir zumindest ein wenig kommunizieren.
 Alles im Institut war sehr gut organisiert. Es gab sogar eine kleine  Kantine, in der wir tagsüber gegessen haben. Es war einfach für uns.  Nach außen hatte man keine Kontakte, nur zu einem kleinen Edeka-Laden,  bei dem wir einkauften. Aber ansonsten: null Komma null. 
 Es war ja auch Winter. Um Kontakte zu knüpfen, hätte man rausgehen  müssen. Wenn man an diese Kälte nicht ge¬wohnt ist, tut es einem richtig  weh, wenn man rausgeht.
 Meine Heimat wurde in der Kolonialzeit unterdrückt, aber nicht von  Deutschland. Erst in der Zeit des europäischen Kolonialismus wurde ja  die Stammesangehörigkeit in unserem Land eingeführt, was das ganze Übel  in meinem Land verursacht hat. Das Land hat sehr darunter gelitten.
 Als meine Eltern gehört haben, dass ich nach Deutschland gehe, waren sie  sehr froh, dass ich nicht in eines der euro¬päischen Länder ging, die  uns früher unterdrückt haben. Deutschland galt als ‚besser’ als alle  anderen europäischen Länder.
 Ein Massaker wie in Kamerun oder in Namibia haben die Deutschen bei uns  nicht angerichtet, und wir wussten damals auch nicht, was in diesen  Ländern geschehen war, dass es dort einen Völkermord gegeben hatte, der  von den Deutschen verübt worden war.
 Meine Einstellung gegenüber Deutschland war also positiv. Ansonsten  hatte ich keine großen Erwartungen. Ich dachte nur, dass es gut war,  eine Chance zu bekommen, und ich probieren sollte, daraus etwas zu  machen.
 Die Einstellung meiner Eltern zu unserer Situation war ganz klar. Sie  hofften, dass einer von uns das nächste Massaker in unserem Land  überleben würde. Meine Mutter sagte mir wörtlich. „Ich weiß nicht, ob du  einen von uns wieder vorfinden wirst, aber du hast die Chance zu  über¬leben.“
 Nachdem ich in Deutschland war, konnte ich mit meinen Eltern über die  Deutsche Welle kommunizieren. Deren Radiostationen gab es damals in  allen Ländern Afrikas. So konnte ich dann Nachrichten an meine Familie  schi¬cken und Nachrichten von meiner Familie er¬halten. 
 Ab und zu konnten wir auch über deutsche Kontaktper¬sonen Briefe  austauschen. Direkt miteinander telefonieren konnten wir aber nicht, da  ich auch niemanden gefährden wollte.
 Wieso ich so viel Angst hatte? Ich war doch noch jung, ich bekleidete  keine politischen Ämter. Nur weil ich einer bestimmten Volksgruppe  zugerechnet wurde! Du brauchst nichts zu tun, du bist, was du bist! Und  jetzt, wo ich außer Landes war, war ich jemand, der auch darüber  berichten konnte. 
 Ich habe keine Waffe getragen, wirklich nicht. Aber ich war jemand, der  potenziell in der Lage war, seine Stimme zu er¬heben. Ich konnte mit  Journalisten reden, ich konnte berichten. Das tat ich ab und zu in  internationalen Zeitungen, aber ich war kein Kämpfer. Man konnte bei uns  nicht reden, ohne verhaftet zu werden.
 Aber auch in Deutschland war ich nicht völlig frei. Ich lebte damals in  Saarbrücken und merkte sehr schnell, wenn ich jemand mal kurz besuchen  wollte, der über der Grenze wohnte, dann durfte ich das nicht. Ich hatte  ja kein Visum.
 Alle anderen fuhren mal kurz nach Frankreich oder nach Italien, das  konnte ich nicht. Ein bisschen fühlte ich mich wie ein Gefangener.
 Auch später, als ich anfing zu studieren. Ich wusste genau, was ich  machen wollte, konnte es aber nicht verwirklichen. Wenn ich meine  Fachrichtung an der Uni gewechselt hätte, hätte ich meine  Aufenthaltsgenehmigung verloren.
 Ich habe mich also nicht frei gefühlt, ich dachte aber, ich sollte das  Beste aus meiner Situation machen. In bestimmter Weise war es einfach  Fatalismus, die Hoffnung, dass sich die Lage irgendwann für mich  verbessern würde.