Christina Giese - Gegensätze ziehen sich an (jugendliche melden sich zu Wort am 4. Juni)

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Gegensätze ziehen sich an

Ich wohne seit meiner Geburt in der Stadt Es-sen. Alle meine
Verwandten sind aus Deutsch-land. Meine beiden besten Freundinnen
wurden auch in Deutschland geboren. Allerdings kom-men ihre Verwandten
nicht aus Europa, sie kommen aus Asien. Eine der beiden heißt
Pu-rathani, sie ist tamilischer Abstammung. Die andere heißt Rashmi und
hat indische Wurzeln.
Für mich ist es selbstverständlich, Neues ken-nen zu lernen. Es ist
normal, sich wenigstens ab und zu mit seinen Freunden zu treffen. Mit
meinen Freundinnen kann dieses Treffen aber zu einem riesigen Problem
werden. Erstens ha-ben die beiden kaum Zeit, da sie beispielsweise noch
in die tamilische Schule oder zum Ge-sangs- oder Musikunterricht
müssen. Oder aber es findet mal wieder eine der vielen Hochzeiten in
dieser Riesenfamilie statt. Gehen wir dann mal shoppen, haben wir sehr
unterschiedliche Vorstellungen von Mode etc.. Kommt eine der beiden
einmal zu Besuch, kann man nur be-stimmte Dinge kochen, da ihre
Religion ihnen vieles verbietet. Zum Beispiel dürfen sie kein Rind
essen. So kann man noch nicht einmal Spaghetti Bolognese machen. Aber
etwas lie-ben wir alle: Thunfischpizza.
Einmal wurden meine Mutter und ich zu einem tamilischen Fest
eingeladen. Wir wurden herz-lich empfangen, und uns wurden sogar Plätze
in der ersten Reihe angeboten. Uns war alles jedoch so fremd, dass wir
uns ziemlich nach hinten verkrümelt haben. Wir waren die einzi-gen
Deutschen, und es kam uns so vor, als ob wir in einem anderen Land
wären. Erstens wussten wir nicht, wie wir uns verhalten soll-ten,
zweitens waren wir ganz anders gekleidet, und drittens fiel durch
unseren sehr blassen Teint auch noch auf, dass wir woanders her-kamen.
Als uns dann eine sensationelle Show mit tami-lischen Tänzen, der Hymne
usw. geboten wur-de, bot uns der Vater meiner Freundin etwas zu essen
und zu trinken an. Wir konnten natür-lich nicht Nein sagen, und so kam
er kurze Zeit später mit zwei vollgeladenen Tellern und zwei Cola-Dosen
wieder. Meine Mutter fragte erst einmal völlig verdutzt nach Besteck,
doch der Vater sagte, dass es normal in ihrem Land sei, mit den Fingern
zu essen. Also aßen wir auch mit den Fingern. Es war schon eine
Überwin-dung, dies zu tun, da man es in Deutschland als Unsitte
ansieht. Außerdem war das Essen für uns etwas ganz Neues. Der Geschmack
war ganz anders, als wir es gewohnt waren. Und die vielen unbekannten
Gewürze machten das Essen unglaublich scharf, so dass wir die uns
bekannte Cola komplett leerten.
Nach diesem außergewöhnlichen Tag konnten sich meine Mutter und ich zum
ersten Mal vor-stellen, wie man sich wohl als Ausländer fühlen musste.
Mein Traum ist es, einmal nach Indien oder nach Sri Lanka zu fliegen,
um das Verhalten und die Lebensweise meiner Freundinnen bes-ser
nachvollziehen zu können.
Ich glaube, dass wir so gut befreundet sind, weil wir so unterschiedlich sind. Denn Gegen-sätze ziehen sich bekanntlich an.

Christina Giese ( 15 Jahre )

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