Dagmar Nicoara - Meine kleine Familie (Jugendliche melden sich zu Wort)

Hördatei: 

Meine kleine Familie

Das Handy klingelt. Ein Freund ruft um Hilfe. Zwei Freunde wurden nach einer Party auf dem Heimweg angegriffen. Wir laufen zu ihnen, um zu helfen.
Meine Gefühle: Angst, Wut, Verzweiflung, Hoffnung. Angst um meine Freunde. Wut auf die Angreifer und auf mich selbst, dass ich nicht da war, um zu helfen, auch wenn ich’s nicht ge-konnt hätte. Verzweifelt, weil wir sie suchen, aber zunächst nicht finden. Hoffnung, dass es ihnen gut geht und die Angreifer fort sind. Sie sind es. Doch die Jungs, nun mit Verstärkung, mit wütender Verstärkung, machen sich auf die Suche nach Vergeltung. Mein Bruder schickt mich zurück aus Angst, mir könnte auch noch etwas passieren. Ich weigere mich.
Gefühle: Angst, Verständnislosigkeit. Angst, dass meinem Bruder auch noch etwas passiert. Angst, ich würde ihn verlieren, könnte mich nicht verabschieden. Verständnislosigkeit ge-genüber seiner Forderung. Wie kann er mich der Angst des Alleingelassen-Werdens ausset-zen? Wie kann er von mir verlangen, ihn alleine dem Kampf auszuliefern? Ein Freund zwingt mich zu gehen.
Keinen klaren Gedanken kann ich fassen. Wie können Menschen andere angreifen? Anderen solche Gefühle zumuten? Was für Gründe ha-ben sie? Innerhalb weniger Minuten wird aus der selbstbewussten Frau ohne Ängste ein klei-nes eingeschüchtertes Mädchen, das den Trä-nen nahe ist. „Sie kommen zurück.“ Erleichte-rung.
Er ist nicht dabei. Leere. Während ich andere getröstet habe und davon abhielt, sich auch noch in Gefahr zu begeben, geschah etwas. Und nun ist er nicht zurückgekommen. „Wo ist er?“ Keiner weiß es. „Wo ist er? Wo ist mein großer Bruder?“
Vorwürfe, Angst, Schmerz. Wie konnte ich ihn alleine lassen? Wieso bin ich nicht mitgegangen? „Komm zurück!“ Sehe ich dich wieder? Geht es dir gut? „Lass mich nicht allein!“
Ich halte den Atem an. Um mich herum ist Stil-le, und ich starre die Straße entlang. Er kommt zurück. Ich weiß es. Er hat ´s versprochen. „Da kommt jemand.“ Mein Herz bleibt fast stehen. Er ist es nicht. Ich will losrennen, ich kann nicht länger warten. „Da! Sie kommen!“ Sie? Ja, dahinter ist noch jemand. Er ist es! Ich spüre mein Herz wie wild klopfen. Angst. Geht es ihm gut? Relativ. Was ist passiert? Er ist ver-letzt. Kurz vorm Heulen. So habe ich mich noch nie erlebt. Beruhige andere, bin aber selbst ei-nem Nervenzusammenbruch nahe.
Die Aufregung legt sich. Ich versuche mich um die Jungs zu kümmern, sie wollen meine Hilfe nicht. Der Schock sitzt bei allen Beteiligten tief. Die ersten Witze werden gemacht. Die Lage beruhigt sich.
Schon bald ist dieses Ereignis für die meisten nur noch Vergangenheit. Für mich nicht. Noch immer bleibe ich, in Gedanken versunken, an der Stelle stehen, wo ich in jener Nacht auf meine Freunde gewartet habe. Nachts gehe ich jetzt aufmerksamer durch die Straßen. Ja, die Angst, dass auch ich angegriffen werde, ist da, doch sie hindert mich nicht, mein Leben wie gewohnt weiter zu leben. Nur eines hat sich geändert. Ich schätze die Momente mit meinen Freunden mehr denn je. Meine kleine Familie.

Dakmar Nicoara ( 20 Jahre )