Dieter Wöhrle - Karrieresprung (Text des Tages)

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Karrieresprung

Draußen ging ein kalter Nieselregen herab. Novemberwetter.

Fabian stand in Kellers Büro und meinte, nicht richtig verstanden zu haben. Ungläubig starrte er ins Gesicht seines Chefs, den seine Fassungslosigkeit fast zu amüsieren schien. Doch Fabian konnte Kellers Mienenspiel nur schwer deuten. Von ihm, Maximilian Keller, wusste man nur wenig. Er galt als strenger, jedoch im Umgang mit den Kollegen höflicher, bisweilen sogar humorvoller Chef, der sich im Übrigen jedoch weitgehend bedeckt hielt und stets etwas reserviert wirkte. Und gerade mitgeteilt hatte, dass er sich in nächster Zukunft ins Privatleben zurückzuziehen und Fabian zu seinem Nachfolger zu machen gedenke.

Eigentlich hatte er Keller nur aufgesucht, weil er gewisse Unregelmäßigkeiten in den Kontobewegungen der Firma nicht richtig verstanden hatte. Und nun das. Allmählich gewann die Freude in Fabians Kopf an Raum, doch noch war er zu verwirrt, um etwas auch nur halbwegs Angemessenes zu sagen. Keller füllte zwei Gläser aus der Champagnerflasche, die er auf seinem Schreibtisch bereitgestellt hatte, und meinte in der für ihn typischen sachlichen und prägnanten Art, er werde die Details seiner Planung in den Folgetagen erläutern, doch bitte er Fabian, schon jetzt die von ihm vorbereiteten Papiere zu unterzeichnen, um die Formalitäten abzukürzen. Auch sei er schon wieder auf dem Sprung, habe er am Nachmittag noch eine wichtige Besprechung, die ihn für den Rest des Tages in Anspruch nehme. Fabian unterschrieb mehrere Papiere an den ihm von Keller gezeigten Stellen, prostete seinem Chef zu, nahm dessen Gratulation und Anerkennung entgegen und fühlte sich nicht unfreundlich, jedoch bestimmt nach draußen bugsiert.

Zurück in seinem eigenen Büro, nahm er sein Smartphone hervor, um Eva anzurufen. Sie sollte es als Erste erfahren. Sie, die viele Jahre auf ein gemeinsames Privatleben mit ihm hatte verzichten müssen, wenn er selbst an den Wochenenden am heimischen Computer gesessen hatte. Die nie geklagt hatte, nicht einmal an ihrem letzten Geburtstag, als Fabian Keller auf einem Abendempfang zu vertreten hatte und sie deshalb allein zu Hause lassen musste. Überhaupt, schoss es Fabian durch den Kopf, war der Elan des Chefs in den letzten Monaten geschrumpft, hatte er sich immer häufiger vertreten lassen bei Konferenzen oder den Empfängen ausländischer Delegationen. Und eigentlich immer von Fabian.

Etwas enttäuscht stellte er fest, dass Evas Telefon abgeschaltet war. Die freudige Mitteilung würde wohl oder übel noch etwas warten müssen. Na wenn schon. Dieser Maximilian Keller. Hatte Fabians Einsatz für die Firma also doch registriert. War ihm wohl freundlicher gesonnen, als er es nach außen zeigte. Aber ändern würde Fabian als neuer Chef doch so manches, das war klar. Denn das, was Keller den Kollegen in letzter Zeit an Gehaltsverzicht und Überstunden zugemutet hatte, war zu einer Belastung für das Betriebsklima geworden. An diesen Schrauben würde Fabian drehen, sie würde er lockern.

Wie fast an jedem Abend geriet er auch heute in den Berufsverkehr. Stop and Go. Nur dass ihm das heute weniger ausmachte als sonst, nicht einmal der Regen konnte Fabian herunterziehen. Was ihn etwas wurmte, war, dass er Eva in mindestens sieben Versuchen nicht erreicht hatte. Als sein Wagen an einer roten Ampel stand, versuchte er, sich ihr Gesicht vorzustellen. Und nahm im gleichen Augenblick eine Gestalt wahr, die ihr glich, die sie hätte sein können. Undeutlich gemacht vom Nieselregen. Noch dazu von hinten. Eingehakt an der Seite eines Mannes, der in Statur und Körperhaltung Keller ähnelte.

Als Fabian zu Hause eintraf, war Eva nicht da. Er suchte sie in allen Räumen, fand dabei ihren Kleiderschrank offen und ausgeräumt. Schubladen ihrer Kommode waren durchwühlt worden, ihre Papiere waren weg.

Während er spürte, wie der Kloß in seinem Hals immer dicker wurde und sich nicht mehr wegschlucken ließ, fuhr er in mechanischer Gewohnheit seinen Computer hoch, um seine Mails einzusehen.

Erst nachdem er das vom Finanzamt an Keller adressierte und an ihn weitergeleitete Schreiben mehrmals gelesen hatte, fing er an, die Wahrheit zu erahnen.

Draußen ging ein kalter Nieselregen herab. Novemberwetter.

Berlin, 6.11.2014

 

Dieter Wöhrle
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