Dieter Wöhrle - Unter Primaten (Text des Tages)

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Unter Primaten
Du meine Güte, war das voll heute. War ihm in der Umkleidekabine schon aufgefallen, kaum noch ein Spind unbelegt.
Elias konnte nur hoffen, dass er sein Programm an diesem Abend einigermaßen durchbekam, ohne sich an jedem zweiten Gerät die Füße in den Bauch zu warten.
Fing aber vielversprechend an. Gerade stieg jemand von einem Crosstrainer ab. Rasch in Beschlag nehmen, Aufwärmen war schließlich wichtig.
Beim Treten in die Pedale kamen Elias Zweifel. War es wirklich eine gute Idee, den Abend vor dem Vorstellungsgespräch mit Pumpen zu verbringen? Sicher, morgen früh würde er sich fit fühlen, wenn er nicht übertrieb. Und er musste schließlich nach was aussehen, frisch wirken, seine beste Seite zeigen, alles geben. Die Firma war bekannt dafür, dass sie gesteigerten Wert legte auf die jugendliche, sportliche und positive Ausstrahlung ihrer Mitarbeiter.
Auf der Suche nach einem freien Trainingsgerät sah er sich um. Ganz schön heftig, was sich hier so alles herumtrieb. Muskeln und Tattoos, wohin man blickte. Krasse, durchtrainierte Gebirgsmassive, bunt bebildert. Und dazu der Sound, ein Stimmengewirr aus Arabisch, Russisch, Englisch und Sprachen, die Elias nicht kannte. Alles überlagert vom wummernden Technobeat.

Glück gehabt, ein Butterfly war eben frei geworden. Die Lady an der Trizepsmaschine gegenüber, starker Tobak: den halben Kopf kahlrasiert, die andere Hälfte mit rot gefärbter Mähne bis auf die Schultern. Die kahle Hälfte hackezu tätowiert. Mehrfarbige Ornamente,. weit jenseits des Erkenntlichen. Die Tattoos liefen ihr über Gesicht und Hals, blieben auch hier nicht zu identifizieren. Liefen weiter über eine Schulter auf den Arm und feierten dort fröhliche Urständ. Muskeln wie eine Löwin. Und dazu das Grinsen im Gesicht, das irgendwie fies wirkte und auch so blieb, als sie unter großer Anspannung Gewichte wuchtete. War es denn ebenso eingeätzt wie die Bilder in ihrem Gesicht?
Elias schmunzelte in sich hinein. Wie mochte es wohl um den IQ dieses Monsters bestellt sein? Ob er überhaupt messbar über dem eines Pullovers aus Schafswolle lag?
Überhaupt war es doch immer wieder verblüffend, welche Vielfalt es in dieser Stadt gab, und zwar auf engstem Raum. Schon morgen würde er als Krawattenmann unter Krawattenmännern auftreten, einem routinierten Personalchef gegenübersitzen, der seine Sachkenntnis ebenso streng prüfte wie seine Selbstsicherheit, sein Auftreten, seinen Teamgeist. Und das alles nur wenige hundert Meter von hier entfernt, von diesem Zoo, diesen Primaten, deren Muskelmasse sich umgekehrt proportional verhielt zu der ihres Gehirns, denen es genügte, wenn sie Eiweiß- und Hormonpräparate schluckten, wenn sie ihre ornamentierten Oberarme anschwellen ließen vor großflächigen Spiegeln, wenn sie Arnold Schwarzenegger über Facebook zum Geburtstag gratulieren durften...

Am nächsten Morgen war er unnötig früh auf den Beinen, hatte er eine bedenkliche Menge Kaffee in sich hineingekippt, sich übertrieben lang geduscht, an seinen Haaren herumgenestelt, sich immer wieder mögliche Fragen ausgedacht, mit denen er womöglich bald bombardiert würde.
Und nun war er hier. Punkt 9 Uhr 30. Der Moment, auf den er sich monatelang vorbereitet hatte. Dr. Daniela Pauli, Personalbüro, stand auf dem Schild neben der Tür. Er klopfte. Von drinnen ein undefiniertes Geräusch. Er klopfte noch einmal. Drückte, nachdem er etwas vernommen hatte, das sich wie „Herein“ anhörte, die Klinke herunter.
Und stand ihm gegenüber, dem halbrasierten und bebilderten Primatenschädel. Die Tattoos liefen über das Gesicht und den Hals, wo sie unter einer weißen Bluse verschwanden. Kurven und Wölbungen an Brust, Schultern und Oberarmen ließen die Kräfte erahnen, die sich unter der Bluse verbargen.
Nur das Grinsen hatte sich irgendwie verändert. Elias konnte es sich nicht erklären, aber es schien ihm, als sei es über Nacht noch giftiger und gemeiner geworden.

Berlin, 31.5.2014
Dieter Wöhrle
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