Frauke Tuttlies - Friesenhaus (Text des Tages)
Hördatei:
Friesenhaus
Wenn Birte einen Wunsch hatte, war es ein Friesenhaus. Es musste nicht direkt am Meer liegen, sondern einfach nur windgeschützt, gleich hinterm Deich.
Von ihrem Friesenhaus sprach Birte oft, im Café Mai. Kalkweiß sollte es sein. Mit einem echten Reetdach und roten Rosen vor der Tür. Auf einem Grundstück mit vom Wind gekämmten Bäumen. Umgeben von einer Hagebuttenhecke.
Ich stellte mir Birte in ihrem Friesenhaus vor. Ich sah sie hinter gehäkelten Gardinen in einer friesenblauen Küche. Dort trank Birte Tee, mit Kluntjes und einem Wölkchen Sahne.
Du weißt ja, wo du mich findest. Im Café mit dem schönen Namen Mai hielt sich Birte häufig auf, um nicht zu sagen, ständig. Es war in Pastelltönen gestrichen, Blumenbilder hingen an den Wänden. In meinen Augen war das Mai kitschig. Birte aber mochte es gern. Hier blühe ich auf, sagte sie. Sobald ich im Mai bin, geht es mir gut.
Und so ging Birte von der Arbeit direkt nach Hause und von zu Hause aus direkt ins Mai. Es lag schräg gegenüber ihrer Haustür. Hier bestellte sie ein oder zwei Glas Rotwein, manchmal auch drei. Am Wochenende suchte Birte gleich nach dem Aufstehen das Mai auf, nahm einen Milchkaffee nach dem anderen und rauchte. Sie blieb nicht lange allein.
Bald traten die Anderen zur Tür herein, Marco, Thorsten, Lena, Martin, Rike und Elli. Birte erzählte mir, dass Marco in einer Werbeagentur angestellt war, Thorsten war arbeitslos, Lena schwanger, Martin hatte Aids, Rike jobbte im Sonnenstudio, Elli studierte und kam nie ohne ihren Hund, der sich immer unter den Tisch legte, an dem sich alle trafen. Im Mai war stets ein Stammtisch für sie reserviert. Sie alle wohnten schließlich in der Nachbarschaft. Dies ist gewissermaßen unser Café, erklärte Birte.
Wir sind so etwas wie eine Familie, vertraute sie mir an, eine Großstadtfamilie. Großstadtfamilien begegnen sich zufällig, haben sich nicht gewählt, wusste Birte, der Ort führt sie zusammen.
Magst du sie überhaupt, fragte ich, als ich Birte mal wieder im Mai besuchte.
Mit mir nahm sie nie am Stammtisch Platz. Wir versanken in einem der plüschigen Sofas, die das Café so gemütlich machten und fühlten uns im Mai wie auf einer Insel, gestrandet. Wir ließen die Stadt an den Fenstern vorbeitreiben, die Autos, die Menschen, den Verkehr ... einige Blätter. Es war Anfang Herbst.
Draußen ging ein frischer Wind ums Häusermeer, brachte Möwen mit, kam von der Elbe. Das da draußen war Hamburg.
Magst du deine Großstadtfamilie, wiederholte ich. Das Mai ist für uns eine Art Wohnzimmer, antwortete Birte. Marco überlegt die Agentur zu wechseln, Thorsten leiht sich von uns ab und zu Geld, Lena freut sich schon wieder darauf zu rauchen, Martin erinnert sich gern an seinen letzten Liebhaber, Rike sucht nach einem neuen Job, Elli hat Prüfungsstress und ihr Hund Flöhe. Was heißt hier mögen, sagte Birte, wir erzählen uns alles.
Im Wohnzimmer lernte Birte auch ihren zukünftigen Mann kennen. Elli brachte ihn eines Tages mit. Sören war neu in der Nachbarschaft und durfte sich an den Familientisch setzen. Dort kam er mit Birte ins Gespräch.
Zwischen ihnen gab es erstaunliche Übereinstimmungen, wie die beiden sogleich feststellen.
Sie mochten den Norden, mit seiner kargen, vom Wind leergefegten Landschaft unter dem hohen Himmel. Das Licht der Maler, sagte Birte. Emil Nolde, wusste Sören. Der Dichter des Nordens, sagte Sören. Siegrid Lenz, lächelte Birte, aber für mich auch Astrid Lindgren, ergänzte sie und Sören stimmte zu, sagte, Lönneberga oder Bullerbü, ganz wie du willst. Am liebsten aber ein Friesenhaus, verriet Birte. Sören nickte.
Kein Wunder, dass Birte und Sören schnell zusammenzogen. Birte hauste links vom Mai, Sören rechts davon, sie brauchten keinen Umzugswagen. Birtes Möbel waren rasch über die Straße getragen, zumal die Stammtischgesellschaft des Mai dabei half.
Passend zum Frühling war Birte schwanger, als ich sie wiedersah.
Wollt ihr denn hier bleiben, fragte ich sie.
Eine Flut von Geräuschen umspülte das Mai. Absatzschuhe klackerten über das Pflaster, ein Krankenwagen heulte vorbei, die Straßenbahn kreischte, der Presslufthammer einer Baustelle donnerte in der Ferne sein Stakkato … die Luft war lau, alle Türen des Mai standen sperrangelweit offen … der Lärm der Stadt brandete an, ebbte ab, kam und ging in Wellen. Du träumst doch vom Friesenhaus, meinte ich.
Aber Frauke, lachte Birte, es war eindeutig zu laut. Ich beugte mich vor, um sie besser verstehen zu können. Mein Friesenhaus, sagte Birte, wir leben in Hamburg und sitzen mittendrin.