Jessica Schoo: In mir (Jugendliche melden sich zu Wort)

Hördatei: 

Jessica Schoo
In mir

Ich bin in meinem Museum, stehe im ersten Raum. Mein eigenes Museum, im Herzen der Natur, überall Bäume, Büsche und Sträucher. Niemand kann kommen und eindringen in mein Reich. Ich schreite über den bunten Teppich, der aus vielen verschiedenen Dingen gewoben wurde. Tausend Farben an den Wänden, es kommt einem vor, als wäre man gerade erst geboren worden, als wäre alles neu. Dieser Raum also, der erste von vielen, zeigt den absoluten Anfang meines Lebens. Die Musik fröhlich, laut, lebhaft. Ich laufe berauscht weiter und sehe Statuen, die meine Mutter zeigen, so wie ich sie das erste Mal sah. Bilder meines Vaters schmücken die Wände, seine Augen leuchten vor Freu­de über das neue Leben, meines.

Nach diesem langen, schmalen Raum kommt eine große Tür, beschwingt durchschreite ich sie. Eine riesige Halle folgt. Massive Säulen, die mit filigranen Mustern bedeckt sind, halten alles und sehen für mich viel älter aus, als sie wirklich sind. Alles ist so prachtvoll und so Eindruck schindend, dass ich nur mit großen Augen durch diese Halle voller Größen gehen kann. Ich laufe über einen edlen Teppich, gearbeitet aus Freundschaft, Liebe und Zusammenhalt. Eine leise Musik plätschert durch die Luft, sie besteht aus einem so beeindruckenden Spiel aus dünnen, hohen Klängen, dass ich auf die Knie falle und der Schönheit dieser Melodie lausche. Als das Lied verklingt und eine vollkommen andere, aber ebenso wundervolle Melodie aus tiefen aneinandergereihten Tönen beginnt, laufe ich übermütig weiter. Langsam schwingt ein wenig Melancholie in den wärmenden Klängen mit – und ich renne fast, um nicht wieder von den feinen Tönen eingehüllt zu werden. Langsamer jetzt betrachte ich auch die Wände und mir fällt auf, dass sie perfekt zu der Musik passen. Sie sind gewaltig, über und über mit Bildern meiner Familie bedeckt und zeigen den Abschnitt meines Lebens, in dem ich meinen großen Bruder kennenlernte. Von der Decke herab hängen Bilder von meinem Bruder, der Grimassen zieht und mich so zum Lachen bringt.

Vor der nächsten Tür bleibe ich stehen, es kommt mir vor, als ob sie von innen herausstrahlen würde. Ich öffne sie einen Spalt und ein Schimmer legt sich auf den Boden. Langsam drücke ich sie ganz auf, wobei sie fürchterlich knarzt. Die weiten Ebenen, die sich vor mir erstrecken, rauben mir den Atem. Ich sehe diesen Raum, der so gewaltig ist, dass ich seine Decke zwar sehen kann, es aber garantiert mehr als tausend Schritte bedürfte, die entgegengesetzte Wand zu erreichen. Der Raum ist so unglaublich, dass ich es kaum fassen kann. Mit all meinen Sinnen erfasse ich die verschiedenen Bereiche des Gewölbes und ich erkenne, dass es die vier Jahreszeiten sein müssen, deren laue Lüftchen und frische Winde mich umspielen. Ich laufe los und beginne rasch damit, durch die Gegend zu hüpfen. Mit lachenden Augen springe ich über Wiesen und durch Meere aus Blumen. Ich übersehe eine Blumenwurzel und stolpere, polternd rolle ich einen Hügel hinunter, aus dem Frühling mit seinen fröhlichen Klängen heraus direkt in den düsteren Winter hinein. Vereinzelte Schneeflocken bilden einen Tanz in der Luft, dessen Schauspiel ich mit Freuden genieße. Hier sind die Bäume kahl und der Boden ist bedeckt mit weißem Puder. An einigen Stellen sind die Nebelschwaden so undurchdringlich, dass ich schon bald die Orientierung verliere. Lange Zeit irre ich hilflos herum. Während ich wieder eine weiße Wand durchkämpfe, spüre ich den Schnee unter meinen Füßen verschwinden, an dessen Stelle tritt saftiges Gras, das anfangs noch feucht ist, jedoch immer mehr trocknet. Die Hitze wird immer unerträglicher, helles Licht umgibt mich. Ich verstehe. Ich habe endlich den Ausgang aus dem Winter gefunden und bin lautlos in den Sommer geglitten. Hier gibt es wieder Musik, Musik, die den Geruch nach gegrilltem Fleisch unterstreicht. Ich kann eine Wand sehen, die gar nicht so weit entfernt scheint, jedoch kann ich nirgendwo Bilder erblicken und begnüge mich mit dem Gefühl von Freiheit im Sommer. Ich laufe gespannt auf den Herbst zu und finde mich schon bald im Frühling wieder. Verwirrt schaue ich mich um und sehe erneut nur Blumen und grüne Wälder. Beunruhigt laufe ich weiter und sehe schon von Weitem den Unheil verkündenden Nebel des Winters. Eine leise, traurige Musik lockt mich in eine andere Richtung, was ich gar nicht so schlecht finde. Die Blätter der Bäume werden jetzt immer brauner und goldener. Doch trotz der wimmernden Klänge des brausenden Windes finde ich den Herbst am schönsten. Man bahnt sich Wege durch goldene, beige und braune Flächen und der Wind wuschelt einem durch die Haare, wispert einem die erstaunlichsten Geschichten zu. Der Herbst scheint das Ende des Raumes zu sein, denn ich stehe vor einem Loch, das ungefähr doppelt so groß ist wie ein Fuchsloch. Ein letztes Mal denke ich über die verwirrende Reihenfolge der Jahreszeiten nach und krieche durch einen nicht enden wollenden Tunnel – hinein ins Ungewisse.

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