Jonas Buchholz - Das Rätsel um Mantao (Jugendliche melden sich zu Wort)
Hördatei:
Das Rätsel um Mantao
oder wenn Wasser erzählt
von
Jonas Buchholz (11 Jahre)
Joans hat seinen Beitrag auch zum diesjährigen Wettbewerb 'Wenn Wasser erzählt' eingereicht, konnte aber wegen der Länge des Textes aber nicht berücksichtigt werden. Daher hier eine Veröffentichung.
Es war heiß, es war so unerträglich heiß. Naomi wusste nicht, wie lange sie schon wach lag. Immer wieder überkam sie die Angst. Angst um ihr Dorf, um die anderen Kinder und um sie. Wie sollten sie alle überleben ohne Wasser? Doch niemand kümmerte sich darum. Sie alle lebten den Tag, nicht das Leben, keiner machte sich Gedanken über die Zukunft, da es keine geben würde. Doch Naomi machte sich Sorgen, sehr große Sorgen.
Wie Naomi so dalag, wurde sie immer müder und müder bis sie endlich einschlief.
Am nächsten Morgen war erbittertes Schluchzen zu hören. Es kam dem Zelt von Naomis Freund Cemi. Vor dem Zelt hatten sich ein paar Bewohner aus dem winzigen Dorf, in dem Naomi lebte, versammelt. Naomi sah das Nachbarmädchen Jouni mit zweien ihrer Geschwister, wie sie Cemis Mutter zu trösten versuchten. Naomi konnte nicht sehen, wieso sie überhaupt weinte. Cemi selbst war nicht zu sehen. Vermutlich war er wieder auf die Jagd gegangen.
Plötzlich sah sie ihn mit einer toten Schlange an den außen stehenden Zelten vorbeigehen. Als er die Dorfbewohner vor seinem Zelt sah, beschleunigte er seine Schritte. Nachdem er das Zelt erreicht hatte, ging ein Murmeln durch die kleine Menschentraube. Als Cemi seinen toten Vater auf dem trockenen Boden liegen sah, kam er ins Schwanken. Dann fing er an zu weinen. So ging es den ganzen Tag, Alle hatten Mitleid mit Cemi und seiner Mutter.
Am Abend ging Naomi ins Bett. Natürlich konnte sie nicht einschlafen. Nachdem sie zwei Stunden wach gelegen hatte, stand sie auf und ging aus dem Zelt. Vor den Zelten, etwas abseits, brannte ein Lagerfeuer, denn nachts war es im Gegensatz zum Tag sehr kalt. Naomi ging dorthin und sah Jouni mit ihrem Vater und ihrem kleinen Bruder Fendu zwischen anderen Dorfbewohnern am Feuer sitzen.
„Solltest du nicht schon längst schlafen?“ fragte Jounis‘ Vater.
„Ich kann nicht schlafen“, antwortete Naomi.
„Dann setz dich zu uns. Es ist gleich Zeit zu beten.“
Naomi setzte sich neben Jouni. Die beiden Mädchen waren vor fast 12 Jahren am gleichen Tag geboren worden, und dennoch hatten sie nicht sehr viele Gemeinsamkeiten. Naomi spielte lieber mit den Jungen im Dorf, konnte besser klettern und schneller rennen als viele von ihnen. Aber auch wenn Jouni mehr mit den Mädchen des Dorfes spielte, mochte Naomi sie sehr.
Als alle schweigend in das knisternde Feuer guckten, erhob der Dorfälteste seine Stimme. Der magere Alte sprach von einer Stadt unter dem Sand namens Mantao.
„Dort soll das Paradies auf Erden sein. Es soll klare Bäche, große Bäume und sprudelnde Brunnen geben. Doch eines Tages kam ein furchtbarer Sandsturm und die Stadt wurde zum Teil verschüttet. Doch dann hatte der Geist der Wüste Mitleid, und er verschonte die Stadt. Er umgab sie mit einer schützenden Luftschicht. Man erzählt sich, dass die Stadt unter einem riesigen Sandhügel verbogen ist, der an die Form eines Gesichtes erinnert. Die Legende sagt, der Geist der Wüste bewacht die Stadt noch immer. Er wacht so lange über der Stadt, bis ein Auserwählter sie findet und befreit.“
Als Naomi endlich in ihr Zelt zurückging, war sie so müde, dass sie sofort einschlief. Sie hatte einen seltsamen Traum. Eine tiefe Stimme rief ihren Namen. Sie drehte sich um und stand direkt vor einem Gesicht aus Sand.
Das Gesicht war riesig. Mit rauer Stimme sprach das Gesicht zu Naomi: „So lange habe ich auf dich gewartet. Mach dich auf den Weg. Dein Dorf braucht dich. Nur du bist in der Lage, sie alle zu retten. Du wirst viel Kraft aufbringen müssen, aber vertraue deinem Herzen und den guten Geistern, dann wirst du mehr erreichen, als du dir je vorstellen kannst. Aber hüte dich vor dem Geist des Schattens. Er wird dir folgen.“
Mit einem Ruck wachte Naomi auf. Sie hatte das Gefühl, als sei jemand gerade noch bei ihr im Zelt gewesen.
Noch vor der Morgendämmerung schlich sich Naomi zu ihrem Freund Cemi und erzählte ihm flüsternd von ihrem Traum. Nach einigem Zögern beschlossen die beiden, sich am nächsten Abend heimlich davonzustehlen und sich auf die Suche nach dem Gesicht zu machen.
Am Tag nutzen sie unbeobachtete Momente, um etwas Proviant, Messer, zwei Speere und ein Pusterohr einzupacken. Am Abend saßen Naomi und Cemi im Kreise ihrer Familien. Der Abschied fiel ihnen schwer, doch sie durften sich nichts anmerken lassen. Es tat weh, einfach zu gehen, ohne zu wissen, ob sie je wieder kommen würden. So viel konnte passieren auf ihrem Weg ins Ungewisse! Und mehr als einmal fragte Naomi sich, ob sie diesen Weg wirklich bestreiten wollte. Doch ihre innere Stimme antwortete immer das Gleiche: „Es ist für dein Dorf Naomi. Sie brauchen dich!“.
Als Naomi das vereinbarte Rufen der Eule endlich hörte, schlich sie sich nach draußen in die Dunkelheit. Es war im ersten Moment kalt in der sternenklaren Nacht. Naomi wickelte das Fell enger um sich. Die Glut des Lagerfeuers war bereits erloschen, aber Naomi war den Weg zu den gelben Felsen schon so oft gegangen, dass sie ihn auch in der Dunkelheit ohne Mühe fand. Sie konnte am Fuß des Felsens schon eine Gestalt sitzen sehen. Das musste Cemi sein.
Doch als sie näher kam, bemerkte sie, dass es jemand anderes war. Der Dorfälteste.
„Komm nur näher Naomi. Ich wusste, dass du kommen würdest. Ich habe es schon lange gewusst.“
Der Alte zog eine Kette hervor, an der etwas Rundes hing. Nimm dieses Amulett. Es wird dich beschützen.“
Naomi betrachtete das Amulett, das ihr der alte Mann reichte. Es war bronzefarben, und auf ihm waren Tiere und Symbole dargestellt, die Naomi noch nie zuvor gesehen hatte. Es schien sehr alt zu sein, und sie überkam ein warmes Gefühl, als sie es in der Hand hielt. Obwohl sie dem Alten gerne eine Menge Fragen gestellt hätte, legte sie sich das Amulett wortlos um den Hals.
„Nun geh! Mögen dir die Geister beistehen. Und wenn ich vorhin richtig gesehen habe, begleitet dich dein tapferer Freund. Geht zunächst Richtung Osten, bis Ihr zur großen Schlucht kommt. Ihr müsst einen Weg hindurchfinden. Wenn Ihr das geschafft habt, liegt der halben Weg schon hinter euch.“
Kaum hatte er das gesagt, stand der Alte auf und verschwand in der Nacht.
Wieder hörte Naomi den vertrauten Ruf der Eule. Sie wandte sich in Richtung des Rufes, sie hörte ein Rascheln, dann kam ihr Freund Cemi aus der Dunkelheit hervor. Erleichtert begrüßte Naomi ihren Gefährten, und sie machten sich auf den Weg.
Die nächsten Stunden liefen die Kinder schweigend Richtung Osten. In der Dunkelheit konnte man kaum etwas sehen. Die Umrisse der toten Bäume machten ihnen Angst. Meist ging Cemi voran. Einmal stieß er heftig gegen einen Stein und fiel auf die trockene Erde. Als Naomi ihm aufhalf, hatte sie irgendwie das Gefühl, beobachtet zu werden. Am liebsten wäre sie wieder umgekehrt und heimgelaufen, doch sie wusste, dass dieser Weg ihre einzige Chance zu überleben war. Also setzten sie ihren Weg fort. Naomi hielt sich dicht hinter Cemi. Immer wieder schaute sie sich um, konnte aber nichts entdecken. Plötzlich durchbrach Cemi die Stille: „Die Sonne geht bald auf. Wir sollten uns ausruhen.“
Sie suchten sich eine geschützte Stelle im Schatten eines flachen Felsens.
Als Naomi aufwachte, war es bereits wieder hell. Neben ihr lag der Proviantbeutel. Der Speer war verschwunden. Und Cemi auch. Sie stand auf, nahm ihr Messer und erkundete die Umgebung. Einige Meter entfernt fand sie einen Opakabusch, dessen grünliche Früchte einen trinkbaren Saft enthielten. Sie schnitt einige Früchte ab, verstaute sie in ihrem Beutel und ging zurück in ihr Lager. Zu ihrer großen Erleichterung kam kurz darauf auch Cemi wieder. Er hatte einen Vogel erlegt. Naomi machte Feuer, und sie garten den Vogel. Nachdem sie gegessen und von den Früchten getrunken hatten, machten sie sich wieder auf den Weg. In der Hitze des Tages kamen sie jedoch nur mühsam voran.
Da entdeckten sie in der Ferne ein Flimmern. Sie wussten nicht, ob es eine Fatamorgana oder wirklich Wasser war. Sie beschleunigten ihre Schritte. Es war tatsächlich Wasser. Oder zumindest war es das einmal gewesen. Jetzt war es nur noch eine schlammige Pfütze. Und die war anziehend genug für drei Löwinnen, die daraus tranken. Sie sahen so abgemagert aus, dass Naomi fast Mitleid hatte. Obwohl die Kinder selbst schrecklich durstig waren, mussten sie sich langsam und unbemerkt von der Wasserstelle entfernen. Fast waren sie schon außer Sichtweite, da hob eine der Löwinnen den Kopf und schaute Naomi direkt an. Naomi griff an ihr Amulett. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde die Löwin loslaufen, doch dann blinzelte sie und tauchte ihre Zunge wieder in die Pfütze.
Naomi und Cemi waren für einen Moment starr vor Angst, dann liefen sie so schnell sie konnten los. Als die beiden endlich atemlos anhielten, sahen sie, dass sie eine Menge Staub hinter sich aufgewirbelt hatten. Naomi hatte das unbestimmte Gefühl, dass das nicht gut war. Es war wie eine Spur, die zu ihnen führte.
„Hüte dich vor dem Geist des Schattens. Er wird dir folgen.“
Die Worte des Dorfältesten kamen ihr wieder in den Sinn.
„Wir müssen hier verschwinden, Cemi! Dort hinten scheint ein ausgetrockneter Fluss zu sein. Wenn wir dort über die Steine laufen, wirbeln wir nicht mehr so viel Erde auf!“
„Gut. Lass uns dem Flussbett folgen. Mit einem bisschen Glück führt er uns zur Schlucht. Vielleicht finden wir dort ja etwas Wasser.“
Die Steine, auf denen sie liefen, waren so heiß, dass sie sich ihre Füße verbrannten. Die Sonne stand senkrecht und der Schweiß perlte den beiden von der Stirn. Als Naomi kurz vorm Zusammenbruch war, entdeckte Cemi die Schlucht. Naomi war am Ende ihrer Kräfte. Der Abstieg über die steile Wand war mühsam und die letzten Meter in die Schlucht waren gefährlich. In der Schlucht war es kühler. Sie beschlossen, dort eine Pause einzulegen.
Naomi hatte noch eine Opakafrucht in ihrem Beutel, die sie sich teilten. Plötzlich sah Naomi einen Schatten vorbeihuschen. Panisch drehte sie sich um. Dann hörten sie ein Knurren von oben. „Was war das?“
Noch ehe Cemi antworten konnte, sprang etwas mit dunklem Fell auf sie hinab. Cemi warf sich zur Seite. Im letzten Moment konnte sich auch Naomi durch einen Hechtsprung vor den scharfen Zähnen des Tiers retten. Schnell richtete Cemi sich wieder auf. Er griff nach seinem Speer und drehte sich um. Drei Hyänen standen ihm gegenüber. Hektisch blickte er über die Schulter. Naomi lag noch immer am Boden. Eine vierte Hyäne näherte sich ihr. Sie setzte bereits zum Sprung an.
„Achtung!“ rief Cemi, doch es war schon zu spät. Blut quoll aus Naomis Bein. Sie schrie auf. Cemi schleuderte sein Speer. Mit einem kläglichen Jaulen fiel die Hyäne um. Die Hyänen, die um Cemi standen, kamen immer näher. Sie fletschen ihre Zähne und knurrten. Der Junge wusste nicht, was er tun sollte, denn er war jetzt unbewaffnet. Naomis Gesicht war schmerzverzerrt. Sie hielt sich ihr Bein. Als sie sah, dass die Tiere Cemi umzingelt hatten, nahm sie ein Messer und warf es auf eine der Hyänen. Sie traf genau zwischen die Augen. Naomi zog den Speer aus dem Kadaver und warf ihn Cemi zu. Er fing ihn aus der Luft. Da tauchte hinter Naomi eine fünfte Hyäne auf. Mit seinem Speer konnte Cemi die Hyänen so weit zurückdrängen, dass er an den Beutel kam, der auf dem Boden lag. Er warf ihn Naomi zu.
„Schnell, nimm das Messer und lauf! Ich lenk diese Biester hier ab!“
„Nein, ich kann dich doch nicht hier allein lassen!“
„L A U F !!“
Und Naomi lief. Ohne sich noch einmal umzudrehen, rannte sie so schnell sie konnte auf die andere Seite der Schlucht zu. Sie kletterte die steile Wand hinauf und hoffte, dass ihr keins der Tiere gefolgt war. Oben angekommen, wagte sie zum ersten Mal einen Blick zurück. Sie war in Sicherheit.
Mit letzter Kraft schleppte sich Naomi in den Schatten eines verdörrten Baumes. Das Letzte, was sie wahrnahm, bevor alles um sie herum schwarz wurde, waren zwei glasige Augen und zwei dürre Hände, die nach ihr tasteten.
Naomi wachte von dem beißenden Schmerz in ihrem Bein auf. Instinktiv fasste sie an ihre Wunde. Die Wunde war verbunden. Mondkraut. Als Naomi versuchte sich aufzurichten, sah sie, dass sie sich in einer schummrigen Hütte befand. An den Wänden waren Masken mit unheimlichen Fratzen. Es roch nach Kräutern. Sie war zu schwach, um aufzustehen, und sank kraftlos auf ihr Lager. Wie war sie hierher gelangt? Wer bewohnte die Hütte? Als Naomi das nächste Mal erwachte, fühlte sie sich bereits kräftiger. Jemand hatte ihr Wasser hingestellt. Woher kam das Wasser? Sie trank in gierigen Schlucken. Plötzlich ging die Tür auf. Naomi erschrak so heftig, dass sie sich an dem Wasser verschluckte.
„Ah, du bist wach“, sagte eine Stimme.
Naomi konnte nicht sehen, wer sprach, da sie von der Sonne geblendet wurde, die durch die Tür schien.
„Wer bist du?“
„Man nennt mich Amanza. Ich habe dich vor drei Tagen gefunden. Du warst halbtot. Zwei Tage hast du geschlafen."
Die Frau trat vor Naomis Decke, sodass sie jetzt ihr Gesicht sehen konnte. Das waren sie. Die blassen Augen. Offensichtlich war die Frau blind. Die Haut war faltig, die grauen Haare standen ihr wild vom Kopf ab. Obwohl sie alt und zerbrechlich aussah, strahlte sie eine große Kraft aus.
Eine innere Stimme gab Naomi den Mut, die Frau zu fragen: „Was weißt du über Mantao?“
Die Frau ließ sich Zeit mit der Antwort. „Dieses Land war einst fruchtbar. Es gab Wälder, Wiesen und Flüsse. Doch die Menschen begannen die Wälder abzuholzen, verschmutzten die Flüsse und vergaßen die Geister der Natur. Die Landschaft veränderte sich. Tiere starben aus, die übriggebliebenen Bäume vertrockneten und die Menschen zogen fort. Die wütenden Geister schickten einen furchtbaren Sandsturm über das Land. Nur die Stadt Mantao blieb verschont.“
An dieser Stelle unterbrach Naomi die Alte: „Davon erzählte auch unser Dorfältester. Er sagte, dass der Geist der Wüste die Stadt verschont hat und seitdem über sie wacht.“
„Ja, so erzählt man sich. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Der einstige Herrscher von Mantao wollte die Stadt nicht verlassen. Er machte den Geist der Wüste dafür verantwortlich, dass seine Untertanen Hunger und Durst leiden mussten. Als auch der König starb, wurde er zum Diener des Schattengeistes.“
„Wer ist der Schattengeist?“, fragte Naomi.
„Der Schattengeist bewacht das Tor zwischen Leben und Tod. Er nimmt diejenigen auf, deren Schicksal bestimmt hat, dass sie sterben. Diejenigen, deren Zeit noch nicht gekommen ist, schickt er zurück ins Leben. Doch hüte dich vor seinen fünf Dienern. Sie sind heimtückische Gestalten, die sich hinter ihrem Herrn verstecken. Sie warten nur darauf, sich hinter seinem Rücken für ihr Schicksal zu rächen.“
Naomi kroch eine Gänsehaut über den Rücken. Sie erinnerte sich an die schrecklichen Vorkommnisse, die sie mit Cemi ... Cemi!!! Wo war er?
„Ich war mit einem Freund unterwegs. Wir sind von Hyänen angegriffen worden. Cemi hat sie abgelenkt und ich konnte fliehen. Weißt du, was aus ihm geworden ist?“
„Hyänen sagt du? Wie viele waren es?“
„Fünf“, sagte Naomi zögernd.
„So dicht sind sie euch also schon auf den Fersen! Cemi geht es gut. Er konnte auch entkommen. Ihr werdet euch bald wiederfinden. Ich habe das Amulett gespürt, dass du um den Hals trägst. Es wird dich zu ihm führen.“
„Was ist mit meiner Wunde? Wird sie verheilen?“, fragte Naomi. „Ich denke schon. Ich kann zwar nicht sehen, wie schlimm sie ist, aber ich habe gelernt, mich ohne Augen zurechtzufinden.“
Als es Naomi am nächsten Morgen viel besser ging, wusste sie, dass sie weiterziehen musste.
„Wenn wir es schaffen und Mantao finden, wirst du dann zu uns kommen?“, fragte sie Amanza beim Abschied.
„Ja, mein Kind, ich werde zu euch kommen. Wir werden immer auf besondere Weise miteinander verbunden sein.“
Naomi drehte sich noch einmal zur Hütte um und wollte schon winken, da fiel ihr ein, dass die Frau blind war. Und doch schien sie mehr zu sehen und zu wissen, als die, die sehen können.
Es wurde bereits dunkel, als Naomi in der Ferne einen Lichtstrahl entdeckte. Vorsichtig näherte sie sich dem Licht. Zuerst dachte Naomi, es sei ein Lagerfeuer. Doch es gab keinen Rauch. So ging sie zielstrebig auf die Lichtquelle zu. Dann sah sie es. Das große Gesicht aus Sand. Es schien, als würde es glühen. Zögernd trat das Mädchen an das Gesicht heran.
„Hallo?“, fragte Naomi zaghaft. Ihr Mund war trocken.
„Hallo?“, fragte sie noch einmal.
Doch nichts regte sich.
Erschöpft ließ sich Naomi auf die Erde sinken. Naomi war so lange gegangen, dass sie todmüde war. Ihr fielen die Augen zu.
In der Nacht wachte sie auf. Das Gesicht glühte noch immer. Da hörte sie eine tiefe Stimme: „Wer bist du?“
Erschrocken drehte Naomi sich um. Wer hatte gesprochen?
„Was willst du hier?“, fragte die Stimme.
Da sah Naomi, dass das riesige Gesicht sprach.
Naomi antwortete: „Ich bin auf der Suche nach Mantao und mein Name ist Naomi.“ „Ich bin der Geist der Wüste. Ich bewache Mantao schon lange Zeit. Ich würde dich in die Stadt lassen, aber beweise mir, dass du nicht der einstige König von Mantao bist. Denn er kann seine Gestalt ändern, seit er dem Schattengeist dient.“
Was sollte sie jetzt tun? Was, wenn der Geist sie abwies?
Da hatte Naomi eine Idee. Vielleicht würde ihr Amulett den Geist der Wüste überzeugen?
Sie holte es hervor. Auch das Amulett schien jetzt zu glühen. Sie hielt es dem Geist mit zitternden Händen entgegen.
„Ah, also bist du es doch. Die Auserwählte. So lange habe ich diese Stadt bewacht, in der Hoffnung, dass du eines Tages kommen würdest. Du hast den Glauben an die Geister der Natur nicht verloren.“
Mit diesen Worten kam ein Wind auf, der das Gesicht verwehte. Naomi musste sich die Augen zuhalten, um keinen Sand in die Augen zu bekommen. Als der Wind nachließ, blinzelte Naomi. Jetzt konnte sie dort, wo eben noch das Gesicht gewesen war, zwei Türme sehen.
Mantao war frei.
Naomi wollte gerade auf das offene Stadttor zugehen, da wurde sie von hinten angesprungen und niedergerissen. Sie riss die Augen auf und blickte direkt in die gelben Augen einer Hyäne, die sich über Naomi beugte. Es gab für Naomi kein Entkommen mehr. Da erstarrte das Gesicht zu einer seltsamen Fratze und kippte zur Seite. Cemis Giftpfeil hatte das Tier am Hals getroffen. Nun rannte der Junge auf seine Freundin zu, und sie nahmen sich in die Arme. Als sie sich zu der toten Hyäne umdrehten, sahen sie, dass sie ihre Gestalt gewandelt hatte. Ein toter Mann lag nun im Sand. Ein dunkler Schatten senkte sich über ihn herab. Und er zerfiel zu Sand.
„Komm lass uns in die Stadt gehen!“, sagte Cemi und zog Naomi von diesem Ort fort.
Durch das Tor konnte Naomi eine kleine gewundene Straße sehen, an der Bäume standen. Das Grün der Pflanzen erschien Naomi unwirklich. Die Kinder überquerten einen kleinen Bach und als sie hineinschauten, sah Naomi in dem gekräuselten Wasser ein Gesicht. Es war das Gesicht von Amanza. Doch es war jetzt viel jünger und die Augen waren wasserblau. Sie lächelte Naomi an und dann war das Gesicht wieder verschwunden.
Da verstand Naomi. Amanza war der Wassergeist. Sie spürte jetzt einen Tropfen auf der Haut. Dann immer mehr. Regen. Das hatte es seit Monaten nicht mehr gegeben. Der Regen vermischte sich mit den Tränen, die Naomi die Wange runterliefen. Tränen der Erleichterung und der Freude. Aber auch Tränen der Sehnsucht nach ihrer Familie und ihren Freunden. Doch sie wusste jetzt, dass sie bald wieder alle zusammen sein würden.
Hier in Mantao.