Katharina Debbeler - Mein Kind (Jugendliche melden sich zu Wort am 17. April)
Hördatei:
MEIN KIND
Katharina Debbeler
Bine und ich vermissen dich. Wenn der Führer wüsste, dass wir dich
nicht besuchen dürfen ... Dieser Doktor Meyerhoff ist wirklich grausam.
Er versteht nicht, wie wir drei zusammenstehen. Ich kann mir nicht
vorstellen, dass es für deine Behandlung förderlich ist, so lange von
uns getrennt zu sein. Und dieser Mensch schimpft sich Arzt − einfach
lächerlich.
Die Wohnung ist so still, seitdem du im Krankenhaus bist. Bine und ich
sind die meiste Zeit allein, nur die verhassten Näharbeiten und
wöchentliche Frauenabende lenken mich ab. Bine will nicht mehr in den
Kindergarten gehen − sie wird gehänselt, weil uns der Papa weggelaufen
ist und die Erzieherin sich abfällig über deinen Arm geäußert hat ...
Diese ignorante Person kann sich nicht vorstellen, was du für uns bist:
Sohn, Bruder und gleichzeitig der Ersatz für deinen unsäglichen Vater.
Du kümmerst dich rührend um Bine und auch um mich, du machst kleine
Reparaturen im Haus, du kümmerst dich um allerlei Geschäfte, die ich als
Frau nicht bewältigen kann, und du trägst all diese Belas¬tungen und
Entbehrungen mit einer Reife und Ver¬nunft, die von deiner Jugend
normalerweise nicht zu erwarten ist. Du warst dein ganzes Leben für uns
da und wärst es auch jetzt noch, wenn diese Monster dich uns nicht
entrissen hätten. Hoffentlich bringt die neue Therapiemethode was, die
uns Dr. Meyer¬hoff versprochen hat. Ich bete darum, dass du eines Tages
zu uns zurückkehrst mit einem heilen Arm, der dich zu einem Teil der
Gemeinschaft macht, so wie du es dir immer gewünscht hast. Dann nehmen
die anderen dich endlich so wahr, wie du es verdient hast. Dann kannst
du in den Krieg ziehen und den Russen zeigen, wo es langgeht. So wie du
es dir im¬mer ausgemalt hast. Weißt du noch, letztes Jahr, als die
Jungen zu den Geländespielen aufgebrochen sind und du zurückbleiben
musstest? Dein Schmerz ist immer noch so greifbar für mich, als wenn du
neben mir sitzen und weinen würdest. Meine Hand in deinem Haar, die dich
tröstet − zwecklos. Diese Rüpel hatten nicht das Recht, dich aus dem
Leben aus¬zuschließen. Solltest du nur wegen dieser Kleinigkeit den
ganzen Tag im staubigen Zimmer sitzen? Es war einfach nicht recht.
Erinnerst du dich, wie wir unser erstes Weihnachten in der neuen Wohnung
verbracht haben? Alle Kin¬der im Ort hatten Geschenke. Die Jungen und
Mäd¬chen spielten mit ihren Schlitten und Püppchen vor dem Wohnblock,
ihr wart auch dort unten, aber es kam mir von meinem Fensterplatz so
vor, als ob ihr in der Menschenmenge ein separates Grüppchen gebildet
hättet: Zwei Kinder, die nicht mit neuen, sondern mit alten Sachen
spielten. Deine Haltung, wieder der Außenseiter zu sein, erschütterte
mich. Dein Blick war leer, als du der vermummten Bine ihre verlumpte
Puppe gereicht hast, die in ihrer schon oft geflickten Kleidung selber
wie eine Lumpenpuppe wirkte. Zum Glück war sie noch zu klein, um
überhaupt zu verstehen, dass Weihnachten war.
Es tut mir leid um diesen Brief, der leider so traurig und verloren ist −
ich kann nur noch einmal wie¬derholen, dass du uns fehlst. Ich weiß
nicht, wie ich die Näharbeiten und die Erziehung von der Kleinen alleine
bewältigen soll. Es fehlt mir, dass du sie abends zu Bett bringst und
ihr vorliest. Deine Stim¬me, die die Laute von Prinzen, Kobolden, Hexen
und Zauberern imitiert, hat mich begleitet, als ich mich mit
schmerzendem Rücken über Röcke, Hosen und Unterkleider beugte, um euch
wenigstens sonntags Fleisch in den Eintopf geben zu können. Alles wäre
doch so viel leichter, wenn Papa nicht zu dieser Frau gegangen wäre.
Aber was erzähle ich schon wieder − jetzt, wo du weg bist, ist es
unmöglich für mich, den Kopf hochzuhalten. Deine Kraft hat immer auf
mich abgefärbt. Ohne dich hätte ich aufgegeben, wäre ganz ruiniert
worden, Bine würde ohne Mutter sein, so wie sie jetzt ohne Bruder und
Vater sein muss.
In dieser letzten Zeile sende ich dir jetzt alle Liebe, die eine Mutter
ihrem Sohn senden kann. Verzeih, dass ich nicht stark genug war, dir mit
diesem Brief positive Erinnerungen zu schicken, die dich in deiner
Isolation aufbauen sollten. Ich hoffe, dass dir mein Schlusswort die
Kraft gibt, die mir deine Antwort geben wird.
Deine Mutter!