Kim Weißer - Das Element Erde (Jugendliche melden sich zu Wort)

Hördatei: 

Kim Weißer
Das Element Erde

 

DAS ELEMENT ERDE
Kim Weißer

„Moin, Herr Abel. Ähm, ich bin jetzt ihr neuer Nachbar, wir wohnen da hinten, hinter dem Wäldchen.“
Heinrich Abel drehte sich langsam um und blickte in das Gesicht des jungen Mannes, der über die Rho¬dodendrenhecke sprach.  
„Hier im ländlichen Bereich soll der Nachbarschafts¬zusammenhalt ja noch richtig klasse sein. Da dachten wir, wir mischen doch mal bei Ihnen mit.“
Das Lachen honorierte Abel nur mit einem weiteren mürrischen Blick. Sein Stachelbeerbäumchen sah kränklich aus. Er würde seine Wurzeln mit etwas Hühnermist bedecken müssen.
„Na ja, also, dann schau ich mal zum Rest vom Schützenfest. Die Häuser hier sind ja ganz schön weit verteilt. Einen schönen Tag noch. Oh, und passen Sie auf Ihre Pflanzen auf. Es soll Frost geben.“
Abel grunzte bestimmt und blickte in den blauen Himmel.
Morgen gäbe es keinen Frost.
Er legte die Harke aus den groben Händen und griff nach den Zucchinisamen. Er besah sich seine Arbeit − eine schöne gerade Linie −, bevor er die Kleinode mit Erde bedeckte und wohlwollend lächelte.
Die Sonne schien.  
Besorgt sah er zum Stachelbeerbäumchen. Seine Finger fuhren die Zweige entlang.
Kaffeesatz und Hühnermist.
Das Bäumchen sah zwei Tage später nicht besser aus. Neben den zwei Osterglocken wirkte es blass.
Abel in seinem grauen Kittel blickte, auf seine Schaufel gestützt, über seinen Garten.
Da hinten, in der Ecke zwischen Haselnuss und Ho¬lunder, kroch ein brauner Haufen Erde empor.
„Ein Maulwurf“, knurrte Abel. Er ging zur Stachel¬beere und fand unter den verstümmelten Wurzeln einen Maulwurfsgang. Mit Jauche in den Händen kehrte er wieder.
Im ganzen Garten fand er drei Löcher, die er alle mit Brennesselsaft füllte.  
Er hörte Kinderlachen.
„Na, Herr Nachbar, Sie wissen doch, tötet man einen Maulwurf, kommen zehn zur Beerdigung. Ist doch so ein altes Sprichwort vom Land.“
Die Kinder im Bollerwagen und der Mann mit seiner silbrigglänzenden Jacke standen ihm viel zu dicht an seiner Hecke, vielleicht schon im Beet.
„Was verstehen Sie schon vom Land?“, fragte Abel, drehte sich um und ging in den Schuppen.
Am Abend verschloss er alle Löcher und stellte sich an das neben seinem Stachelbeerbäumchen, dem, wo noch keine Jauche schwamm. Mit der Schaufel stand er vornüber gebeugt, bis er seinen alten Rücken nicht mehr spürte und ihm die Hände taub wurden.

Auch der nächste Abend war warm und mild, als der Nachbar an seinem Tor stand.
Abel ging hinaus und begrüßte ihn unwillig mit einem Grunzen.
„Tja, wissen Sie“, fing der junge Mann an und gestikulierte wild, „vielleicht bin ich das falsch angegangen. Man sollte doch friedlich miteinander umgehen und einander helfen, Sie wissen schon ...“
Abel hörte dem Mann nicht mehr zu. Sein Blick wanderte zu seiner Rhododendrenhecke und dem Beet davor. Der Storchenschnabel war, fast dem Erdboden gleich, niedergetrampelt.
„Kommen Sie rein“, sagte Abel, die große Hand zeigte auf das Häuschen.
„Ja, gerne, wenn Sie ein Alster hätten ...“
„Ja, ja, ich komme sofort, muss noch mal in den Schuppen. Gehen Sie schon rein.“
Abel blickte in die untergehende Sonne, als er den Schuppen betrat.
Die Schaufel stand fein säuberlich an der Wand.
Daneben der Maulwurf, aufgehängt an einem Fuß.