Laura Klatte: Hoffnung (Jugendliche melden sich zu Wort)

Hördatei: 

Baum, so nennt man mich. 150 Jahre zählen meine Jahresringe nun schon. Viele Jahrzehnte, in denen ich heiße Sommer, kalte Winter, verregnete Frühlinge und viel zu stürmische Herbste überstanden habe. Jahre, in denen so manch müder Wanderer oder Hirte zu mir kam, um sich auszuruhen oder um Schutz unter meiner mächtigen Krone zu finden. Auch Vögel und andere Tiere besuchten mich häufig, stets mit dem Vorhaben, Nahrung oder ein Zuhause zu finden.
Ich war immer für alle da. Habe viel miterlebt und doch alles immer wieder überstanden.
Nur sorgte sich in all der Zeit niemand um mich. Erging es mir schlecht oder fielen die Käfer über mich her, so kämpfte ich allein. Selbst meine Sprösslinge verlassen mich jedes Jahr, sodass ich im Herbst dastehe, wie Mutter Natur mich schuf: nackt.
150 Jahre lang war ich da – aber niemand sonst. Alleine, ganz alleine stehe ich hier. Weit und breit nichts als Wiesen, Felder und Tiere. Kein anderer Baum. Ich bin allein, ganz allein.
Vor Kurzem kamen Waldarbeiter und Förster. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich die Hoffnung, vielleicht bald nicht mehr alleine zu sein. So viele starke Menschen, dachte ich mir, die können doch sicher weitere Bäume hierher zu mir pflanzen.
Sie gaben allerlei für mich unverständliche Laute von sich und liefen immer wieder hin und her. Sie hatten Bänder dabei, an denen sie irgendetwas erkennen konnten, so erschloss ich es zumindest aus ihrer Reaktion, denn nach einem Blick auf das Band folgten wieder Laute.
Schließlich standen sie direkt vor mir.
Ihre Augen wanderten von meinem Stamm in meine prachtvolle Krone. Ich war stolz. So viel Bewunderung erfährt man auch nach vielen vielen Jahren auf der Erde noch gerne.
Kurz bevor sie wieder fuhren, verzierten sie meine Rinde noch mit roter Farbe. Es ist ein schönes Rot, ein schöner Kontrast, hier in dieser grünen Um¬gebung.
Es ist jetzt bereits fünf Tage her. Tage, in denen ich warte, auf einen weiteren Baum. Doch bis jetzt stehe ich hier noch immer alleine. Den Rest meines Lebens würde ich gerne zu zweit verbringen. Ich warte weiter. Die Hoffnung stirbt doch schließlich zuletzt.