Mursal Javadi - In Not (Jugendliche melden sich zu Wort am 20. Januar)
Hördatei:
In Not
Nach der Flucht meiner Familie aus Afghanistan kamen meine Mutter,
meine zwei Brüder und mein Onkel in Deutschland an. Ein Bekannter, der
schon länger in Deutschland lebte, holte sie in Berlin ab. Sie machten
sich alle zusammen mit dem Zug auf den Weg zu Bekannten im Ruhrgebiet.
Die Reise nach Deutschland war lang und anstren-gend. Um hierher zu
gelangen, mussten sie ver-schiedene Staaten wie Kirgisien, die Ukraine
und Polen durchqueren. Sie alle hatten viel durchge-macht und saßen nun
endlich im Zug und freuten sich auf ein paar ruhige Tage bei ihren
Bekannten. Jedoch waren sie illegal in Deutschland, und des-halb waren
die Nerven strapaziert. Und die Angst, erwischt und nach Afghanistan
abgeschoben zu werden, wo sich verschiedene Organisationen be-kriegen,
war groß. Meine Brüder waren zu dieser Zeit zwei und sechs Jahre alt.
Sie weinten ständig, hatten Angst und waren müde.
Plötzlich schrie ein Mann, die Kinder sollten ruhig sein. Es war ein
großer, stabil gebauter Deutscher mit einer Glatze und einer
Bierflasche in der Hand. Im Zug saßen nur wenige Menschen, und meine
Mutter versuchte vergeblich, meine Brüder ruhig zu stellen. Er schrie
wieder so laut und erregt, dass sein Kopf rot anlief. Jedoch verstanden
meine Mut-ter und mein Onkel ihn nicht. Meine Brüder waren verängstigt
und weinten immer mehr. Der Bekann-te konnte Deutsch sprechen und
fragte den aufge-wühlten Mann, was sein Problem sei. Sie fingen an sich
zu streiten, und meine Mutter und mein Onkel wussten nicht, was sie tun
sollten. Plötzlich packte der Mann unseren Bekannten mit beiden Händen
um den Hals und fing an ihn zu würgen. Mein Onkel versuchte vergeblich,
ihn von dem hasserfüllten und betrunkenen Mann zu befreien. Der Mann
packte so fest zu, dass mein Onkel keine Chance hatte zu helfen. Keiner
der Menschen im Zug half. Der Kopf des Bekannten lief rot an, und
Schweiß perlte an seiner Stirn hinunter. Dann endlich hielt der Zug an,
und mein Onkel rannte nach draußen, um Hilfe zu holen. Er schrie und
machte Handbe-wegungen, um andere aufmerksam auf sich zu ma-chen. Dann
erst ließ der Mann unseren Bekannten los und lief davon. Dieser fiel
auf den Boden und rang nach Luft. Meine Brüder weinten immer noch,
meine Mutter kümmerte sich sofort um den Be-kannten.
Warum schauen die Menschen in solchen Notsitua-tionen einfach nur weg, ohne zu helfen?
Mursal Javadi ( 18 Jahre )