Nilay Yilmaz - Wo bin ich? (Kinder und Jugendliche melden sich zu Wort am 3. Juli)

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Wo bin ich?

Fragen über Fragen wimmeln in meinem Kopf. Wo bin ich? Wieso werden wir nirgends aufgenommen? Einfach unmöglich. Nur weil wir in Deutschland ge-boren sind und hier leben, haben wir keine genaue Heimat. Wir sind nicht nur in Deutschland Auslän-der, sondern auch in der Türkei. Dort werden wir als „alamanci“ bezeichnet. Aber das beantwortet mir immer noch nicht die Frage, wo ich bin!
Es hat alles angefangen, als mein Opa zuerst nach Holland und später nach Deutschland kam, um als Gastarbeiter zu arbeiten. Er arbeitete bei der Firma Krupp, denn er hatte fünf Kinder, für die er sorgen musste. Das Schrecklichste ist, dass mein Opa meine Tante und meinen Onkel für tot erklärt hat, weil man damals nicht mehr als drei Kinder haben durfte. Deswegen sollte meine Tante bei ihrer Tante väterlicherseits in der Türkei aufwachsen. Dank ihr durfte sie auch zur Schule gehen, obwohl es in un-serer Kultur nicht erlaubt war, dass die Mädchen zur Schule gehen. Außerdem wurde mein Onkel bei meinem Onkel aufgezogen, und nach einem Jahr kam er dann auch nach Deutschland. Aber meine Tante blieb und lebt dort noch immer.
Nebenbei muss ich noch sagen, dass nicht nur die Zeit, in der sie hierher gekommen sind, hart war, sondern auch die Zeit, in der sie in den Ferien in die Türkei gefahren sind. Denn beim Spaziergang war es sehr ungewohnt für uns zu sehen, dass mein Opa und meine Mama Arm in Arm gingen. Eigentlich ist das etwas ganz Normales. Stattdessen aber haben sich die alten Männer lustig gemacht und gesagt: „Seht euch mal den Europäer an! Er hat sich ein junges Mädchen geangelt.“
Ich sage es immer wieder: mein Opa war früher ganz anders. Er war nämlich früher ein ganz stren-ger und dickköpfiger Mensch. Und nur aus diesem Grund hat er meiner Mutter nicht erlaubt, zur Schu-le zu gehen. Aber er musste sie schicken, weil der Klassenlehrer meiner Mutter nach Hause kam und mit meinem Opa geredet hat. Er hat ihm erklärt, dass es in Deutschland eine Schulpflicht gibt. Meine Mutter war trotzdem nur zwei bis drei Mal pro Wo-che in der Schule. Sie ging in sie nur bis zur fünften Klasse, danach wurde es geheim gehalten, dass sie nicht mehr ging. Aber wegen einer Aufenthaltsbe-scheinigung musste mein Opa sie dann doch wieder zur Schule schicken, denn es fehlten ihr einige Zeugnisse.
Das, was ich an meiner Mutter bewundere, ist, dass sie die deutsche Sprache ganz allein durch Zeit-schriften und einige deutsche Fernsehkanäle ge-lernt hat. Um auch die Aussprache richtig zu be-herrschen, hat sie eine Englischlehrerin, die auch ihre Nachbarin war, gefragt, ob sie ihr dabei helfen könne, die Sätze zu korrigieren, die sie falsch sag-te.
Mit der Zeit hat sich alles nun geändert. Denn mein Opa denkt gar nicht mehr so, dass die Mädchen nicht zur Schule gehen sollten. Im Gegenteil. Er legt den größeren Wert darauf, dass die Mädchen in unserer Familie etwas Besseres erreichen. Deswe-gen sagt er zu uns, dass wir auf jeden Fall lernen und auf eigenen Füßen stehen sollen. Das bedeutet also, dass er einer meiner größten Unterstützer ist, wenn es sich um die Schule und um das Berufsle-ben handelt.
Nun frage ich euch: Was kann ich dafür, dass ich nun hier bin? Warum kommt jeder zu uns und sagt, dass wir zurück in unsere Heimat sollen? Haben wir überhaupt eine Heimat?

Nilay Yilmaz ( 16 Jahre )

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