Paul Beckmann: Selbstheilungskräfte

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Paul Beckmann Selbstheilungskräfte

Antonius Axenrott hasste Weihnachten und liebte seinen Blinddarm.
Als
Single in einer Zweizimmerwohnung mit wenig außerberuflichen Kontakten
zu seinen Arbeitskollegen – sie waren verheiratet und nur selten zu
einem Kneipenbe-such zu überreden – fand er Weihnachten scheußlich.
Ringsum sentimentale Gefühle, denen er sich nicht hin-geben durfte.
Doch seit vielen Jahren half ihm sein Blinddarm, dieser Einsamkeit und
seinem Gefühlsdefizit zu entkommen. Mit beginnender Adventszeit gelang
es Antonius, seinen Blinddarm so zu stimulieren, dass die-ser in einen
Reizzustand geriet. Schließlich ist der Appendix ein Ort verminderten
Widerstands im Organismus. Nachdem er rechtzeitig Urlaub beantragt
hatte, ließ er sich drei Tage vor dem Weihnachtsfest ins Krankenhaus
einliefern. Indem er diesen Reiz richtig dosierte, führte ihn das
entzündete Körperorgan zwar bis an die Schwelle des Operationssaales,
aber nicht darüber.
Medikamente und gezielte Gedankenarbeit ließen
den Schmerz nach und nach abklingen und schließlich so verschwinden,
dass er nach Heilige Drei Könige wieder gesund und arbeitsfähig in
seine Zweizimmerwohnung entlassen werden konnte.
Bis dahin aber
verlebte er wunderschöne Weihnachtstage. Da es sich um ein christliches
Krankenhaus handelte, hatte er ausgiebig Gelegenheit, am Heiligen Abend
bei Christkindbesuch, Engleingesang und einer reichlichen Bescherung
sentimentale Gefühle zu entwickeln, die ihm jedes Mal echte Tränen in
die Augen trieben.
So ging das alle Jahre wieder. Und die
Krankenkasse zahlte. Er selbst erwies sich immer als pflegeleichter
Patient, der im Laufe der Jahre auf jeweils neue Medikamente gefällig
und duldsam ansprach und ihre Heilungswirkung bereitwillig an seiner
Person dokumentierte.
Die Schwestern waren nett zu ihm, auch die
Ärzte, die für ihn nicht viel Zeit aufwenden mussten. Sie erkannten im
Laufe der Jahre, dass es sich hier um eine Weih-nachtskrankheit
handelte, die vor allem durch Zeit und Zuwendung geheilt werden konnte.
Schließlich hielt man für ihn wenige Tage vor dem Weihnachtsfest immer
schon ein Bett bereit und beauftragte eine Lernschwes-ter mit seiner
Pflege.
Er war es zufrieden. Und auch froh, dass man nicht mehr
allzu genau seine Beschwerden untersuchte, denn schließlich wurde sein
Blinddarm immer dickfelliger gegen seine Stimulationsversuche.
Doch
die Zeiten änderten sich. Neues Ärzte- und Pflegepersonal erschien auf
den Stationen, neue Behand-lungs- und Abrechnungsmethoden griffen um
sich. Er merkte es erst, als er, wie gewohnt, kurz vor dem Christfest
seinen gereizten Blinddarm im Krankenhaus turnusgemäß einlieferte. Ehe
er sich versah, lag er auf dem Operationstisch, ritsch – ratsch war der
Blinddarm entfernt, und nach drei Tagen wurde er nach Hause entlassen.
Ausgerechnet an Heiligabend.
Da saß er nun einsam in seiner
Zweizimmerwohnung und verstand die Welt nicht mehr. Bis schließlich
nach Weihnachten sein Hausarzt kam und ihn aufklärte.
Zwischen den
beiden hatte sich in den Jahren ein vertrauensvolles Duzverhältnis
entwickelt. Der Mediziner durchschaute schon längst das
Weihnachtssyndrom seines Patienten und unterstützte es jedes Jahr mit
einer Überweisung, weil er den seelischen Gesundheitswert dieser
Krankheit sehr hoch einschätzte.
„Mein lieber Antonius“, sagte er,
„du hast die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Krankheit wird von den
Kassen nicht mehr nach ihrer Länge berechnet und ihrem tatsächli-chen
Verlauf, sondern nach ihrer hypothetischen Hei-lungserwartung. Jede
Krankheit wird in einen bestimmten Zeitrahmen gepresst – wie Hühner in
Käfigbatterien. Man nennt das Fallbeispiel.
Dein Blinddarm ist
auch ein Fallbeispiel. Seine Sanie-rung wird auf drei Tage
eingeschätzt. Für diese drei Tage zahlt die Krankenkasse. Mehr nicht.
Dann musst du raus. Egal, wie du dich fühlst. Denn jeder weitere
Behandlungstag geht auf Kosten des Krankenhauses. Sollte sich der Fall
als komplizierter erweisen, etwa durch die Entstehung weiterer
körperlicher oder seelischer Gebrechen im Gefolge der Operation, dann
gibt es für selbige weitere Zeiteinheiten, die den Aufenthalt im
Krankenhaus verlängern und auch von den Kassen be-zahlt werden. Doch
solche Prolongationen sind selten, weil Folge- und Nebenwirkungen unter
der Schleppe der majestätischen Hauptkrankheit meist übersehen werden.
Mir
in meiner kleinen Praxis geht es doch ähnlich. Ein Hausbesuch bei dir
bringt mir nichts ein. Ein einfaches Gespräch erfolgt zum Nulltarif. Da
muss ich schon leich-te depressive Verstimmungen mit Magenreizung,
Lungenaffektationen und Knieschmer¬zen dazu erfinden, damit ein paar
Brosamen vom Tische der Krankenkas-sen fallen.
Allerdings – großen
Jubel wirst du bei den Hospitälern auslösen, wenn du den Zeitrahmen
unterschreitest. Dann nämlich bekommen unsere Heilanstalten für die
erübrigten Resttage das vereinbarte Geld, ohne eine Gegenleistung
vollbracht zu haben. Du wirst dir also, lieber Antonius, eine neue
Taktik überlegen müssen, wenn du Weihnachten wohlgeborgen im
Krankenhaus verbringen willst. Dein Blinddarm ist ohnehin nicht mehr
einsetzbar.“
Für Antonius war das eine schlimme Erkenntnis. Aber er
verlor nicht den Mut. Zwar hatte er seinen folgsamen Blinddarm
verloren, doch er besaß, soweit er sich erin-nern konnte, noch
sämtliche andere Organe, Innereien und Gliedmaßen, die krankheitsfähig
waren.
Er beriet sich mit seinem Hausarzt. Dieser meinte:
„Krankheiten an deiner Knochen- und Skelettstruktur würde ich zunächst
noch nicht ins Auge fassen. Die kommen später ohnehin auf natürliche
Weise. Besser, du bleibst im inneren Bereich, wo die Verhältnisse trotz
neuer Techniken noch nicht so durchschaubar sind. Zu-mal man die Seele
noch immer nicht abbilden kann. Das Körperinnere ist ein weites Feld.
Und – wie
der leider entfernte Blinddarm zeigt – scheinen deine
Organe dir voll ergeben und krankheitswillig zu sein. Am besten, du
beginnst mit der Cosivantutte-Krankheit, sie ist multikausal und lässt
viele Nachfolge-Wehwehchen zu.“
Und er begann einen Leidensplan zu skizzieren.
„Nur, mein lieber Antonius, du musst deinen Organen die richtigen Krankheitssymptome abverlangen.“
„Das schaffe ich, Doktorchen, bis zum Weihnachtsfest habe ich sie manipuliert.“
Als
dieses dann näherrückte, ging er zunächst nicht zu der Aufnahmestation
zwecks Anamnese, sondern gleich zum Krankenhausdirektor. Der war Jurist
und Zahlen-fachmann.
Antonius Axenrott erklärte ihm, dass er an
Krankheiten leide, die eine Verweildauer von mindestens 30 Tagen
erforderlich machten, und schlug ihm einen Deal vor. Er wolle davon nur
15 Tage bleiben und schenke den Rest der Krankenanstalt. Dem
Verwaltungsmann kamen vor Begeisterung die Tränen.
„Was für ein
Weihnachtsgeschenk! Damit können wir unseren defizitären Haushalt zum
Jahresschluss erheb-lich sanieren.“ Er ließ Kaffee, Kuchen und einen
Ober-arzt kommen, der den möglichen Verlauf der Krankhei-ten mit allen
Zeiteinheiten fachmännisch zu Papier brachte. Er kam sogar auf 35 Tage.
Nun ja, schließlich war er Spezialist.
Mit diesem Papier begab sich
Antonius zur Anamnese, und die junge Ärztin, die gerade den ersten Tag
ihres Assistentendaseins begann, konnte natürlich nichts Bes-seres tun,
als anhand dieses kompetenten Leitfadens in die Höhle dieses
labyrinthischen Krankheitsgewirrs ein-zudringen, um dort mit den
erforderlichen Messwerten und Symptomen Ordnung und Glaubhaftigkeit zu
schaf-fen. Sie veranlasste eine sofortige Einlieferung in das Hospital.
Der
Patient verlebte herrliche Tage zur Weihnachtszeit. Zwar zeigte sich
das Christkind mit seinen Englein nicht mehr, dafür ließ sich aber dann
und wann der Chefarzt sehen und hielt mit ihm einen kleinen Plausch.
Nach
‚Heilige Drei Könige’ waren die Krankheiten dank guter Behandlung und
Gedankenarbeit so weit saniert, dass er gesund und arbeitsfähig in
seine Zweizimmer-wohnung entlassen werden konnte. Als Gegengeschenk für
die eingesparten 20 Tage erhielt er von der Kranken-hausleitung das
Taschenbüchlein „Der selbstverantwort-liche Patient“. So ging das alle
Jahre wieder. Und im Krankenhaus wurde Antonius Axenrott auf der
Habenseite zu einem festen Etatposten.

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