Paul Beckmann - Selbstheilungskräfte (vom 24. Dezember 2010)

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Selbstheilungskräfte
von Paul Beckmann

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Antonius Axenrott hasste Weihnachten und liebte seinen Blinddarm.
Als Single in einer Zweizimmerwohnung mit wenig außerberuflichen Kontakten zu seinen Arbeitskollegen – sie waren verheiratet und nur selten zu einem Kneipenbesuch zu überreden – fand er Weihnachten scheußlich. Ringsum sentimentale Gefühle, denen er sich nicht hingeben durfte. Doch seit vielen Jahren half ihm sein Blinddarm, dieser Einsamkeit und seinem Gefühlsdefizit zu entkommen. Mit beginnender Adventszeit ge-lang es Antonius, seinen Blinddarm so zu stimulieren, dass dieser in einen Reizzustand geriet. Schließlich ist der Appendix ein Ort verminderten Widerstands im Organismus. Nachdem er rechtzeitig Urlaub beantragt hatte, ließ er sich drei Tage vor dem Weihnachtsfest ins Krankenhaus einliefern. Indem er die-sen Reiz richtig dosierte, führte ihn das entzündete Körperor-gan zwar bis an die Schwelle des Operationssaales, aber nicht darüber.
Medikamente und gezielte Gedankenarbeit ließen den Schmerz nach und nach abklingen und schließlich so verschwinden, dass er nach Heilige Drei Könige wieder gesund und arbeitsfähig in seine Zweizimmerwohnung entlassen werden konnte.
Bis dahin aber verlebte er wunderschöne Weihnachtstage. Da es sich um ein christliches Krankenhaus handelte, hatte er aus-giebig Gelegenheit, am Heiligen Abend bei Christkindbesuch, Engleingesang und einer reichlichen Bescherung sentimentale Gefühle zu entwickeln, die ihm jedes Mal echte Tränen in die Augen trieben.
So ging das alle Jahre wieder. Und die Krankenkasse zahlte. Er selbst erwies sich immer als pflegeleichter Patient, der im Laufe der Jahre auf jeweils neue Medikamente gefällig und duldsam ansprach und ihre Heilungswirkung bereitwillig an seiner Person dokumentierte.
Die Schwestern waren nett zu ihm, auch die Ärzte, die für ihn nicht viel Zeit aufwenden mussten. Sie erkannten im Laufe der Jahre, dass es sich hier um eine Weihnachtskrankheit handelte, die vor allem durch Zeit und Zuwendung geheilt werden konn-te. Schließlich hielt man für ihn wenige Tage vor dem Weihnachtsfest immer schon ein Bett bereit und beauftragte eine Lernschwester mit seiner Pflege.
Er war es zufrieden. Und auch froh, dass man nicht mehr allzu genau seine Beschwerden untersuchte, denn schließlich wurde sein Blinddarm immer dickfelliger gegen seine Stimulationsver-suche.
Doch die Zeiten änderten sich. Neues Ärzte- und Pflegeperso-nal erschien auf den Stationen, neue Behandlungs- und Ab-rechnungsmethoden griffen um sich. Er merkte es erst, als er, wie gewohnt, kurz vor dem Christfest seinen gereizten Blind-darm im Krankenhaus turnusgemäß einlieferte. Ehe er sich versah, lag er auf dem Operationstisch, ritsch – ratsch war der Blinddarm entfernt, und nach drei Tagen wurde er nach Hause entlassen. Ausgerechnet an Heiligabend.
Da saß er nun einsam in seiner Zweizimmerwohnung und verstand die Welt nicht mehr. Bis schließlich nach Weihnachten sein Haus-arzt kam und ihn aufklärte.
Zwischen den beiden hatte sich in den Jahren ein vertrauens-volles Duzverhältnis entwickelt. Der Medizi¬ner durchschaute schon längst das Weihnachtssyndrom seines Patienten und unterstützte es jedes Jahr mit einer Überweisung, weil er den seelischen Gesundheitswert dieser Krankheit sehr hoch ein-schätzte.
„Mein lieber Antonius“, sagte er, „du hast die Zeichen der Zeit nicht erkannt. Krankheit wird von den Kassen nicht mehr nach ihrer Länge berechnet und ihrem tatsächlichen Verlauf, son-dern nach ihrer hypothetischen Heilungserwartung. Jede Krankheit wird in einen bestimmten Zeitrahmen gepresst – wie Hühner in Käfigbatterien. Man nennt das Fallbeispiel.
Dein Blinddarm ist auch ein Fallbeispiel. Seine Sanierung wird auf drei Tage eingeschätzt. Für diese drei Tage zahlt die Kran-kenkasse. Mehr nicht. Dann musst du raus. Egal, wie du dich fühlst. Denn jeder weitere Behandlungstag geht auf Kosten des Krankenhauses. Sollte sich der Fall als komplizierter erweisen, etwa durch die Entstehung weiterer körperlicher oder seelischer Gebrechen im Gefolge der Operation, dann gibt es für selbige weitere Zeiteinheiten, die den Aufenthalt im Kranken-haus verlängern und auch von den Kassen bezahlt werden. Doch solche Prolongationen sind selten, weil Folge- und Ne-benwirkungen unter der Schleppe der majestätischen Haupt-krankheit meist übersehen werden.
Mir in meiner kleinen Praxis geht es doch ähnlich. Ein Hausbe-such bei dir bringt mir nichts ein. Ein einfaches Gespräch er-folgt zum Nulltarif. Da muss ich schon leichte depressive Ver-stimmungen mit Magenreizung, Lungenaffektationen und Knieschmerzen dazuerfinden, damit ein paar Brosamen vom Tische der Krankenkassen fallen.
Allerdings – großen Jubel wirst du bei den Hospitälern auslösen, wenn du den Zeitrahmen unterschreitest. Dann nämlich bekommen unsere Heilanstalten für die erübrigten Resttage das vereinbarte Geld, ohne eine Gegenleistung vollbracht zu haben. Du wirst dir also, lieber Antonius, eine neue Taktik überlegen müssen, wenn du Weihnachten wohlgeborgen im Krankenhaus verbringen willst. Dein Blinddarm ist ohnehin nicht mehr einsetzbar.“
Für Antonius war das eine schlimme Erkenntnis. Aber er verlor nicht den Mut. Zwar hatte er seinen folgsamen Blinddarm ver-loren, doch er besaß, soweit er sich erinnern konnte, noch sämtliche anderen Organe, Innereien und Gliedmaßen, die krankheitsfähig waren.
Er beriet sich mit seinem Hausarzt. Dieser meinte: „Krankheiten an deiner Knochen- und Skelettstruktur würde ich zunächst noch nicht ins Auge fassen. Die kommen später ohnehin auf natürliche Weise. Besser, du bleibst im inneren Bereich, wo die Verhältnisse trotz neuer Techniken noch nicht so durchschaubar sind. Zumal man die Seele noch immer nicht abbilden kann. Das Körperinnere ist ein weites Feld. Und – wie der leider entfernte Blinddarm zeigt – scheinen deine Organe dir voll ergeben und krankheitswillig zu sein. Am besten, du beginnst mit der Cosivantutte-Krankheit, sie ist multikausal und lässt viele Nachfolge-Wehwehchen zu.“
Und er begann einen Leidensplan zu skizzieren.
„Nur, mein lieber Antonius, du musst deinen Organen die richtigen Krankheitssymptome abverlangen.“
„Das schaffe ich, Doktorchen, bis zum Weihnachtsfest habe ich sie manipuliert.“
Als dieses dann näherrückte, ging er zunächst nicht zu der Aufnahmestation zwecks Anamnese, sondern gleich zum Krankenhausdirektor. Der war Jurist und Zahlenfachmann.
Antonius Axenrott erklärte ihm, dass er an Krankheiten leide, die eine Verweildauer von mindestens 30 Tagen erforderlich machten, und schlug ihm einen Deal vor. Er wolle davon nur 15 Tage bleiben und schenke den Rest der Krankenanstalt. Dem Verwaltungsmann kamen vor Begeisterung die Tränen.
„Was für ein Weihnachtsgeschenk! Damit können wir unseren defizitären Haushalt zum Jahresschluss erheblich sanieren.“ Er ließ Kaffee, Kuchen und einen Oberarzt kommen, der den möglichen Verlauf der Krankheiten mit allen Zeiteinheiten fachmännisch zu Papier brachte. Er kam sogar auf 35 Tage. Nun ja, schließlich war er Spezialist.
Mit diesem Papier begab sich Antonius zur Anamnese, und die junge Ärztin, die gerade den ersten Tag ihres Assistentenda-seins begann, konnte natürlich nichts Besseres tun, als anhand dieses kompetenten Leitfadens in die Höhle dieses labyrinthischen Krankheitsgewirrs einzudringen, um dort mit den erforderlichen Messwerten und Symptomen Ordnung und Glaubhaftigkeit zu schaffen. Sie veranlasste eine sofortige Einlieferung in das Hospital.
Der Patient verlebte herrliche Tage zur Weihnachtszeit. Zwar zeigte sich das Christkind mit seinen Englein nicht mehr, dafür ließ sich aber dann und wann der Chefarzt sehen und hielt mit ihm einen kleinen Plausch.
Nach Heilige Drei Könige waren die Krankheiten dank guter Behandlung und Gedankenarbeit so weit saniert, dass er ge-sund und arbeitsfähig in seine Zweizimmerwohnung entlassen werden konnte. Als Gegengeschenk für die eingesparten 20 Tage erhielt er von der Krankenhausleitung das Taschenbüchlein „Der selbstverantwortliche Patient“. So ging das alle Jahre wieder. Und im Krankenhaus wurde Antonius Axenrott auf der Habenseite zu einem festen Etatposten.

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