Sabrina Wilms - Zeichenpfad (Jugendliche melden sich zu Wort)
Hördatei:
Zeichenpfad
Wenn ich diesen Pfad entlanggehe, komme ich mir vor, als würde ich
durch ein Tor aus unse-rer Zeit in eine andere Zeit schreiten. Die Welt
um mich herum ist plötzlich schwarzweiß, an mir laufen Menschen vorbei.
Ich sehe sie nur verschwommen, ein Meer von Schatten. Einer sieht aus
wie der andere, und doch verbindet sie etwas, die Kleidung, der Blick,
mit dem sie auf das Tor zugehen, so, als kämen sie von der Arbeit und
seien nicht gerade auf dem Weg dorthin.
Der Himmel nimmt vor mir Formen an, ich se-he graue Rauchwolken, die
die Gegend über-ziehen. Ein leichter Ascheregen liegt in der Luft und
auf meiner Kleidung. Ich schließe die Au-gen, höre eine Glocke, die zur
Arbeit ruft, Tausende von Schritten, die in eine Richtung schlurfen.
Mit geschlossenen Augen gehe ich einige Minu-ten geradeaus. Plötzlich
nehme ich ein neues Geräusch wahr, Kinderrufe. Ich öffne die Augen und
stehe vor einem Bolzplatz, auf dem Kinder in geflickten Sachen hinter
einem Ball herlau-fen, während eine Frau gewaschene Wäsche raushängt
und sich mit ihrer Nachbarin unterhält.
Ich schließe meine Augen wieder und strecke die Arme nach beiden Seiten
aus. Ich spüre eine frische Brise im Nacken, eine Hand legt sich auf
meine Schulter. Hinter mir steht ein Mann in einer Parkwächter-Uniform:
„Entschul-digen Sie, Sie stehen genau in der Einfahrt.“ Jetzt erst
bemerke ich die Autos, die darauf warten, auf den Parkplatz kommen zu
können. Meine Freunde tauchen neben mir auf: „Hey, komm schon! Die
Lasershow fängt gleich an!“
Ich stehe an einem beeindruckenden Ort. Die Kulisse des alten Gebäudes
vor mir wird rot angestrahlt. Gegen den fast dunklen Himmel zeichnen
sich die Türme ab. Ich betrete einen Ort, der das Tor zu einer anderen
Zeit ist. Einer Zeit, die nur ich sehen kann.
Ich atme tief durch und betrete diese Welt in meiner Zeit.
Sabrina Wilms ( 19 Jahre )