Sven Schaller - Es kam anders, als ich dachte (Jugendliche melden sich zu Wort am 26. Mai)

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Es kam anders, als ich dachte

„Was willst Du denn machen? Alleine hier blei-ben? Du wirst schnell
Freunde finden! Mach Dir keine Sorgen, und die Sprache lernst Du auch
schnell!“, sagte meine Mutter. Nach diesen Sätzen saß ich lange in
meinem Zimmer und dachte nach. Der Raum war fast leer, nur noch das
Nötigste nicht verpackt. Riesige Umzugskartons, deren Inhalt ein ganzes
Leben sein kann.
Zwei Jahre war ich jetzt schon auf der weiterführenden Schule, als ich
von dem Plan meiner Eltern erfuhr: „Es war schon immer unser Traum,
eines Tages nach Spanien zu gehen!“ Traum? Oder doch vielleicht mein
Albtraum? Ich dachte an die letzten zwei Jahre. Gut. Be-sonders
verbunden habe ich mich meiner Klas-se nie gefühlt. Eher als
Außenseiter. Drum dachte ich mir, der Abschied würde nicht schwer
fallen. Wer würde mich schon vermissen? Mich. Einen von vielen. Die
Kisten und Koffer waren gepackt, der LKW war damit be-laden, die Route
von Essen ins südliche Spanien nach Malaga geplant. Bis dahin wusste
ich nur aus einem bekannten deutschen Schlagerlied, dass dort wohl
Rosen blühen.
Mein letzter Schultag kam näher, und es kam anders, als ich dachte.
Kleine Abschiedsgeschenke und Glückspfennige wurden mir mit auf den Weg
gegeben. Ich wollte stark bleiben, doch beim Verlassen der Schule brach
ich, als mich keiner mehr sah, in Tränen aus. Sie verfolgten mich bis
an die französische Grenze.
An die Zeit in Spanien erinnere ich mich heute nur noch sehr dumpf.
Nicht dass sie schlimm war, eher eine Erfahrung, die ich nicht missen
möchte. Doch ich verstand, wie man sich in einem fremden Land fühlt,
wenn man dort plötzlich in den Alltag geschmissen wird. Kaum zu
vergleichen mit einem zweiwöchigen Strandurlaub. Ich war ein schlechter
Schüler mit wenig Kontakt zu Einheimischen. Ich fühlte mich wieder als
Außenseiter. Zu Hause tönte deutsche Musik aus einem deutschen
Fernse-her mit deutschem Programm. Ein seltenes Glücksmoment war es für
mich, wenn ich mal wieder etwas über meine Heimatstadt Essen hörte.
Zwei Jahre blieb ich in Spanien, bis sich meine Eltern trennten. Meine
Mutter lebte ihren Traum, meinen Vater zog es nach Essen zurück, und
ich hatte die Wahl. Schwer, sich in diesem Alter zu entscheiden. Die
schlechten spanischen Noten kamen dazu, ich sollte die achte Klasse
wiederholen. Am Ende stand die Entscheidung, zurück nach Essen zu
gehen. Oder am Anfang? Ich kam sogar zurück an meine alte Schule, in
meine alte Klasse. Wer vor zwei Jahren noch mein Feind war, war nun
mein Freund. Natürlich war es manchmal auch umgekehrt.
Heute denke ich: Wenn ich in Spanien geblieben wäre und ich meiner
Heimat Essen für im-mer den Rücken gekehrt hätte, was hätte mir das
Schicksal gebracht? Auf viele Freundschaf-ten hätte ich verzichten
müssen. Wie viele hätte ich in Spanien gefunden? Hätte ich dort auch
die Person gefunden, die für mich das beste ist, was mir im Leben
passieren konnte?
Heute reise ich oft nach Spanien, um meine Mutter zu besuchen, selten
auch alte Kollegen. Wenn ich dort aus dem Flugzeug steige und ein paar
Mal ein- und ausgeatmet habe, spüre ich es wieder, dieses Gefühl, fremd
zu sein. Denn ich weiß heute, wo ich mich wirklich zu Hause fühle: in
meiner Heimatstadt mit ihren Ecken und Kanten und ihrer Sprache. Es
stimmt wohl, dass man etwas erst wirklich zu schätzen weiß, wenn man es
verliert.

Sven Scheller ( 19 Jahre )

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