Tabea Reinmuth - Nachtwache (Kinder und Jugendliche melden sich zu Wort am 11. August)

Hördatei: 

Nachtwache
Tabea Reinmuth

Eines Abends ging ich nach mehrstündigem Klavierspielen und noch völlig von der Musik eingenommen „mal schnell“ auf meiner Station vorbei, um kurz einen befreundeten Zivi, der bereits examinierter Krankenpfleger ist, in seiner Nachtschicht zu besuchen. Während er noch anderweitig beschäftigt war (telefonierte – kann man das hier schreiben?), setzte ich mich an den Computer und schrieb, in einem trance-ähnlichen Zu-stand, die folgenden Zeilen:

ihr lebt alle so oberflächlich.
ihr habt doch alle nix in der birne.
warum ist die welt so kompliziert?
muss man irgendetwas verstehen?
ich hoffe nicht.
sonst kann die menschheit nur verlieren.
alle sind komisch.
ich passe nicht in die welt.
die welt passt mir nicht.
das muss man wohl andersherum sehen.
jeder ist egoist.
das ist lebensnotwendig.
jeder ist unterschiedlich egoistisch.
das liegt in der natur der dinge, des menschen, der welt.
jeder hat ein bestimmtes maß an wissen über sich selbst.
man kann nie alles wissen.
schon gar nicht über sich selbst.
wie wäre der mensch dann wohl?
er würde sich wohl oder übel das leben nehmen.
alles zu wissen, würde kein mensch aushalten.
oft ist das wenige, was wir in unserem dämmerzustand mitbe-kommen, schon zu viel.
wie erbärmlich.
der mensch lebt besser, wenn er keine ahnung hat.

ABER: ist es unsere pflicht, so viel wie möglich zu wissen? über uns herauszufinden? durch nachfragen, durch beobach-ten, durch denken?
oder sollen wir – von gott aus – wer ist gott? oder was? gibt es das überhaupt? wer bestimmt das? – nichts über uns heraus-finden? ist der mensch zum geheimnis geschaffen, von dem niemand wissen soll? und wenn die menschen alles – oder sehr viel – über sich wüssten: wer hätte dann etwas davon? würde das überhaupt eine rolle spielen? interessiert das ir-gendein schwein?
und diese ganzen fragen: sie sind zwar überall, aber ist das nicht nur aus meiner winzigen, unbedeutenden sicht so? sind sie nicht in wirklichkeit nur und ausschließlich in meinem kopf, wo niiiiiemand reingucken kann? vielleicht sind sie ja auch
(aber anders) in anderen köpfen, die sich – rein formal gese-hen – ähnliche gedanken machen (was wiederum nahelegt, dass diese gedanken von irgendjemandem entwickelt wurden, um uns menschen damit zu verwirren, oder auch, dass es ir-gendein buch, nein, einen „virtuellen katalog“ gibt, in dem in gewisser reihenfolge diese gedanken aufgeführt sind, und die menschen können, je nach intellekt, philosophischer denkme-thode und übung, gewisse stufen davon erreichen, bestimmte gedanken denken, wobei sie meinen, sie seien von selbst darauf gekommen) ...“ Ja, diese morphogenetischen Felder ...
Ausschnitt aus dem Brief, den ich einige Tage oder Wochen später an den Zivi geschrieben habe: „Was ich so richtig gut fand, das war, als ich Dich nachts auf der Station besucht ha-be: Nachdem ich diese philosophisch durchtränkten Phrasen zu Papier gebracht hatte, haben wir angefangen, darüber zu diskutieren. Und über ganz viele andere Sachen, die immer wieder irgendwie damit zusammenhingen, wo ich einen Bezug herstellen konnte. Ich glaube, ich habe da einen für mich ganz essentiellen Text produziert. [...] Das Tolle in dieser Nacht fand ich, wie Du Dich auf dieses außergewöhnliche Gespräch eingelassen hast; wie wir im Lauf der Zeit immer weniger an-einander vorbeigeredet haben; und vor allem: wie Du mir zu-gehört hast. Du saßest da auf dem Drehstuhl, ich auf dem an-deren, ich redete, Du sahst mich (mit Deinem typischen Blick) einfach an und hörtest mir zu. Ohne dazwischenzureden. Nur zuhören. Das fand ich echt klasse. Das ist nämlich etwas, was nicht jeder kann. [...] Vielleicht weißt Du noch, wie ich das mit der zwischenmenschlichen Atmosphäre gesagt habe (da sa-ßen wir in der Küche am Tisch): Manchmal schafft man es, nach einer gewissen Zeit eine Atmosphäre aufzubauen, die frei ist von den störenden Äußerlichkeiten des Alltags, wo man sich auf der geistigen Ebene näher kommt, weniger Hemmun-gen beim Reden hat und einfach in diesem Moment bedin-gungslos auf den anderen eingestellt ist. Vielleicht sogar ohne Worte. Weißt Du, was ich meine?“

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